Erstellt am: 5. 3. 2015 - 13:47 Uhr
The daily Blumenau. Thursday Edition, 05-03-15.
#journalismus
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
Siehe dazu auch:
The daily Blumenau. Tuesday Edition, 07-10-14. Vertrauenskrise. Warum User/Leser/Seher ihren Medien nicht mehr so recht trauen, wieso aber auch Medien nicht zu sehr auf ihre User/Seher/Leser eingehen sollten.
Eigentlich wollte ich mich heute ja einem der vielen im Jahrbuch für Journalisten 2015 (das im Verlag Oberauer, der unlängst kress gekauft hat, erscheint) angerissenen Themen widmen - die Auswahl an klugen (und auch wieder optimistischen) Texten zum digitalen Journalismus, den Tücken der Medienkrise oder neuen Erzählformen ist ja entsprechend groß.
Dann ist aber das echte Leben dazwischengekommen, in Form einer praktischen Prüfung. Einer Prüfung im biblischen Sinn. User H. hatte sich (übrigens noch vor der von ihm wahrscheinlich eh nicht bemerkten Publikums-Preisvergabe) über den "Hype" um die Band Wanda beschwert und zwar mit dem Argument, dass das Textzitat aus Bologna ("ich würde gern mit meiner Cousine schlafen") grauenvoll und blamabel wäre, vor allem weil "Österreich mit dem Fall Fritzl schon negativ belastet" sei.
Abgesehen davon, dass der Bologna-Text eigentlich das Gegenteil besagt ("Ich kann sicher nicht mit meiner Cousine schlafen, obwohl ich gerne würde, aber ich trau mich nicht!"), abgesehen also vom Unverschämtest-Möglichen, nämlich einem Falsch-Zitat, steckt in dieser Rückmeldung soviel Blödsinn, Borniertheit und Bigotterie, dass sie eine nähere Betrachtung wert ist. Vor allem auf der Meta-Ebene.
Die Fakten-Ebene ist schnell aufgeklärt: freiwilliger Sex zwischen Cousin/Cousine ist weder illegal noch fritzelig (=gewalttätiger, freiheitsberaubender Übergriff von Elternteil auf Kind), und zudem immer wiederkehrender Popkultur-Topos. Und selbst das (theoretisch strafbare) und ebenso immer wieder auftauchende Thema der inzestuösen Geschwisterliebe ist (von Cat People bis Hotel New Hampshire, von Goethe bis Littell) Dauergast in der künstlerischen Bearbeitung menschlicher Grenzausreizung. Und so für eine Popsong-Zeile mehr als nur legitim; vielleicht sogar verpflichtend.
Auf der Meta-Ebene 1. Ordnung geht es natürlich nicht wirklich um an diversen Schamhaaren herbeigezogene Argumenterln, sondern eine klassische (in Österreich besonders) ausgeprägte Form der Neidgesellschaft (warum die schon und ich/wir nicht...) - was sich aktuell am Beispiel Wanda oder Bilderbuch wunderbar durchexerzieren lässt: kaum erreicht jemand eine kritische Star-Größe, wird öffentliche Beachtung, vor allem in den Medien, die die Akteure auch schon durch die unbekannten Zeiten begleitet haben, als quasi gekaufter Hype diffamiert. Das ist ein simpler Reflex und ebenso altbekannt wie inhaltlich uninteressant.
Interessant wird's erst auf der Meta-Ebene 2. Ordnung - und jetzt bin ich endlich wieder beim Thema Journalismus 2015.
Ich darf nämlich (gesichert) davon ausgehen, dass die Menschen heute nicht deutlich dümmer sind als früher. Blödsinnigkeit, Bigotterie und Borniertheit sind keine Alleinstellungsmerkmale der digitalen Ära. Das heißt: Scheinargumentationen wie die von User H. gab es immer schon; auch in den unterschiedlichsten Stufen der Vertrotteltheit. Der Unterschied war: sie sind im privaten Bereich geblieben oder erreichten einen bestenfalls in 1:1-Situationen bei Echtleben-Begegnungen, etwa bei Konzertbesuchen. Nur die Borniertheit jener, deren Macht soweit ging, dass sie in Medien hineinregieren konnten, wurde gehört (auch schlimm genug, vor allem dann, wenn diese privilegierten Definitionsmächtigen den Fehler begingen die so abgebildeten Ergüsse durch die Öffentlichmachung als wichtigen Diskurs-Beitrag zu sehen; die heimische Mediengeschichte ist - bis ans Ende des letzten Jahrhunderts - voll mit Grotesken aus dieser Ecke).
Heute, wo jeder Empfänger (bei einigem Geschick) auch Sender sein und (bei noch mehr Geschick) auch Shitstorm-Auslöser sein kann, hat sich die Zahl derer, die reine Rülpser mit Diskurs verwechseln, dramatisch erhöht.
Das allein ist keinesfalls ein Problem, sondern nur die Konsequenz einer geänderten Medienstruktur. Der Rückkanal per se ist eine tolle (und auch unverzichtbare) Sache, die Entwicklung glücklicherweise unumkehrbar. Wie er, der Rückkanal, befüllt wird, lässt sich von den klassischen Medien-Produzenten nur insoweit determinieren, als ihre Themenvorgabe meist waldhineinschallmäßig auch zurückkommen. Niemand, der in der Ukraine-Krise ein allzu kalt-kriegerisches Russland-Bild gezeichnet hat, sollte sich über den entsprechenden Rücklauf im Rückkanal beschweren.
Was die klassischen Medien (und auch der einzelne Journalist) tatsächlich bestimmen können, ist jedoch der Aufwand, den sie für die Bearbeitung des Rückkanals einsetzen. Der ist mittlerweile ganz schön angewachsen: zu den klassischen Leser/Hörer/Seher/User-Reaktionen sind Foren-Postings auf den Websites, aber auch die Möglichkeiten in Social Media (Facebook, Twitter...) gekommen.
Aktuell wird der Rückkanal als Bergwerk betrachtet, in dem wertvolle Rohstoffe lauern, die nur geschürft werden wollen. Weswegen man sich einmal sicherheitshalber um alles und alle kümmert.
Das ist aus einigen Gründen unsinnig und kontraproduktiv. Zum einen, weil es letztlich nur um eine Art Wiedergutmachung der Rückkanal-Ignoranz der letzten paar hundert Jahre geht, in denen die allermeisten Medien auf die Reaktionen ihrer Nutzer einen großen Krapfen geschissen haben.
Zum anderen, weil die erste journalistische Sorgfaltspflicht, nämlich die um die inhaltliche Selektion nach Relevanz, zugunsten einer scheindemokratischen Umarmung des gesamten Inputs vernachlässigt wird.
Jeder journalistisch tätige Mensch, der Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden versteht, wird innerhalb recht kurzer Zeit wissen, welche Art von Reaktionen bearbeitenswert sind und wo der Rückkanal sich letztlich selber genügt. Die Spreu jener, die sich aufblähen wollen und dafür die Cousine grauslich finden, trennt sich klar vom Weizen der Nachrichten, die Substanzielles enthalten könnten.
Die dringende Notwendigkeit dieser Differenzierung hat sich aber noch nicht bis in die Verlags/Medienhaus-Spitzen, wo man an die Quantität, nicht die Qualität des Rohstoffs glaubt, herumgesprochen. Schlimmer noch: viele halten den Rückkanal per se für den Rohstoff, der die digitale Zukunft retten wird. Das hat wieder mit Überkompensation zu tun, weil die Ignoranz Social Media (2.0, halbanonym) gegenüber direkt auf die Ignoranz von Foren-Postings (1.0, anonym) gefolgt ist.
Weshalb aktuell Zeitbudgets ohne Ende in die Bearbeitung von Reaktionen fließt, die man früher zurecht schon im Ansatz abgeschüttelt hätte wie der Hund die Regentropfen. Weshalb dann Ressourcen gebunden und Verwaltungsaufgaben erhöht werden - worunter wiederum Recherche und Inputsuche durch Außengänge leiden. Einige Probleme, unter denen Journalisten aktuell stöhnen, haben ihre Ursache an der übertrieben geäußerten Aufmerksamkeit von klar zu Vernachlässigendem; und zwar nur weil "Rückkanal!" draufsteht. Und weil man irgendwie das Gefühl vermittelt bekommt, dass man alles ansehen, beantworten und aufklären muss.
An dieser Stelle könnte man anmerken, dass ich mich ja selber nicht an diese Grundregel halte, weil ich mich ja sonst nicht ernsthaft mit der Cousinen-Geschichte aufgehalten hätte. Eh. Aber manchmal ist das Verbotene das Beste.
Muss man nicht. Blödsinn, Borniertes und Bigottes darf ruhig auch einfach stehenbleiben ohne dass sich ein Journalist, dessen Output der Anstoßgeber war, dazu äußern muss. Doris Knecht sagt im aktuellen Falter-Cover-Interview dass sie die Postings zu ihrer Kurier-Kolumne nicht liest.
Völlig richtig so. Tu ich in meinem Bereich auch nicht. Wozu auch - die Community reguliert das/sich von selber. Und wenn jemand mir wirklich etwas (persönlich) sagen will, dann wird das auch gelingen - egal ob beim Konzert, per direktem Mail oder Social-Media-Nachricht. Und die Nachrichten und Reaktionen substanzieller Natur stechen da wie von selber heraus.
Alles andere ist verschwendete Zeit und vergeudete Lebensenergie; und ein überritualisierter Kotau vor einem Informationskanal, der - nur weil er vom User kommt - nichts Besseres als alle anderen Kanäle darstellt. Weiß ich, weil ich ja selbst oft User bin und zeitweise auch weniger sinnhafte Sätze absondere. In der Hoffnung, dass sie Niemandes professionelle Zeit fressen, sondern nur am Spaß-Surf-Budget anderer User nagen.
Ich bin sicher: im nächsten Journalisten-Jahrbuch, 2016 dann, wird nicht nur vage vor der Überbewertung von Social Media gewarnt, sondern konkret auf die Arbeit mit den Rohstoffen aus dem Rückkanal eingegangen