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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

28. 2. 2015 - 10:14

Umweg nach Hause

Wie findet man zurück ins Leben, wenn man aus der Bahn geworfen wurde? Dieser Frage geht der amerikanische Autor Jonathan Evison in seinem neuen Roman nach. Berührend und sehr humorvoll.

Wer will denn in einer Welt leben, in der das Leid das einzig Beständige ist, einem Ort, wo einem alles, was einem jemals wirklich wichtig war, in einem Augenblick genommen werden kann? Und es wird einem genommen, da braucht man sich gar nichts vorzumachen.

Benjamin ist am Boden zerstört. Vor mehr als einem Jahr hat ein furchtbarer Schicksalsschlag seine Ehe und sein Leben zerbröckeln lassen. Emotional und finanziell vollkommen Pleite lässt sich Benjamin in "häuslicher Pflege" ausbilden und heuert bei Trevor an, einem eigensinnigen und zynischen Jugendlichen. Er leidet an einer Muskeldysthropie des Typs Duchenne. Eine Erbkrankheit, die immer tödlich endet.

Auch wenn Benjamin und Trevor einander gleich sympathisch finden, beginnt für den einen ein vorsichtiges Herantasten und den anderen ein schwieriger Weg, einen neuen Menschen sein streng geordnetes Leben durcheinander bringen zu lassen.

Buchcover "Umweg nach Hause" von Jonathan Evison

Kiepenheuer&Witsch

"Umweg nach Hause" von Jonathan Evison ist in deutscher Übersetzung von Isabel Bogdan im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen.

Jetzt, vier Monate nach dem Bewerbungsgespräch, verbringe ich vierzig bis sechzig Stunden pro Woche mit Trev. Die anfänglichen Peinlichkeiten bei Toilettengängen haben wir lange hinter uns. Die Flitterwochen auch. Ich habe die FARBE-Schritte mehrfach durchlaufen, habe sechzehn Wochen lang gefragt, Antworten abgewartet, respektiert, geholfen und noch mal gefragt, habe eine Trillion Waffeln gegessen, war vier Mal im Schuhgeschäft und habe endlose Stunden Wetterbericht geguckt. Das Erschöpfungs-Stadium habe ich schon vor drei Monaten hinter mir gelassen.

Als plötzlich Trevs Vater Bob auftaucht, der die Familie fluchtartig verlassen hatte, als sein Sohn drei Jahre alt war, kommt Bewegung in das eingefahrene Alltagsleben. Benjamin identifiziert sich sofort mit dem hilflosen loser-Vater, der von Trev und seiner Mutte abgelehnt und fortgeschickt wird. Als Bob einen Unfall hat, überredet Benjamin den genervten Trevor, ihn zu besuchen. Die beiden machen sich auf zu einer Reise in einem Minivan quer durch Amerika. Was als kleines Abenteuer beginnt, wird bald zu einem turbulenten, aberwitzigen Roadtrip inklusive blutigen Knien, Gefängnisaufenthalt, Verfolgungsjagt und großer Freundschaften.

Umweg ins Leben

Zu Beginn fühlt sich "Umweg nach Hause" an wie eine Mischung aus "Ziemlich beste Freunde" und "Little Miss Sunshine". Aber der kalifornische Autor Jonathan Evison versteht es meisterlich, seine ganz eigene Geschichte zu schreiben. Seine Charaktere sind mit vielen Schattierungen lebensnahe gezeichnet und durchleben einen nicht übertriebenen Entwicklungsprozess, der sie weiter zu sich selbst bringt und deshalb auch schöne Identifikationsflächen bietet. Man kann in gleicher Weise mit dem seelisch gebrochenen Benjamin, als auch dem todkranken Trevor mitfühlen, ohne Mitleid zu empfinden. Evison trifft nämlich immer den perfekten Ton zwischen ernsthaftem Entwicklungsroman und herrlich skurrilem Witz. So wird "Umweg nach Hause" zu einem berührenden, aber nicht anrührenden Roman.

Portrait des kalifornischen Autors Jonathan Evison

© Keith Brofsky

Jonathan Evison geht mit seinen Figuren ebenso behutsam um, wie sich der Pfleger und sein todkranker Patient immer mehr öffnen und einander nähern. Im Laufe des immer mehr aus den Fugen geratenen Roadtrips streut der Autor vermehrt Rückblenden ein, in denen Benjamin nach und nach enthüllt, welches tragische Ereignis ihn aus dem Leben geworfen hat. Liest man Evisons selbst verfasste Kurzbiographie, so findet sich darin durchaus einiges der sympathischen und liebevoll dargebotenen Verrücktheit wieder, die seinen Hauptcharakter Benjamin ausmacht. Nicht zuletzt ist es die gute Mischung aus schräger Situationskomik und ehrlicher Anteilnahme an seinen vom Schicksal gebeutelten Charakteren, die "Umweg nach Hause" zu einem großen Lesevergnügen macht. Ganz nebenbei lässt uns Jonathan Evison mit dem Gefühl zurück, dass Menschen sich ändern und wieder den Weg zurück in ein erfülltes Leben finden können, wie widrig die Umstände und die eigene Biographie auch sein mögen. Und so eine aufmunternde, hoffnungsspendende Geschichte kann jeder mal gebrauchen.