Erstellt am: 25. 2. 2015 - 13:49 Uhr
Geborgtes Leben
Mit Akzent
Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Im Radio und auch als Podcast zum Anhören.
"Die Leiden des jungen Todor"
Das Buch mit den gesammelten Kolumnen gibt es im FM4 Shop.
Vorgestern rief mich mein Mitschüler Kossio an. Er komme nach Wien, wir sollten uns sehen. Ich habe ihn gefragt, ob er mit seinem BMW komme. Ich wusste vom BMW durch Facebook, da in Kossios Profil unglaublich viele Fotos von ihm und seinem Auto zu finden sind. Wie er ein- und aussteigt, wie er das Auto fährt oder wie er sich einfach lässig an seinen weißen BMW X6 lehnt. "Nein, dieses Mal nicht mit dem BMW, sondern mit einer Delegation", antwortete Kossio. Ich schaute mir sein Facebook-Profil näher an und fand heraus, dass er seit kurzem ein hochrangiger Mitarbeiter eines bulgarischen Ministeriums geworden ist. Bisher stach mir der BMW so in die Augen, dass ich gar nicht bemerkt habe, was für eine Karriere Kossio bereits hinter sich hat.
Kossio und ich waren in der selben Schulklasse. Im Gymnasium mussten wir irgendwann eine Liste mit den zehn Büchern anfertigen, die uns am meisten im Leben beeinflusst hatten. Kossio konnte nicht mal zehn Bücher aufzählen, von beeinflussen gar nicht zu sprechen. Er bat mich als "Bücherwurm" die Liste für ihn zu machen. Jetzt ist er ein hohes Tier in diesem Ministerium und ich bewache eine Tür in Österreich. Irgendwo in der Nähe läuft ein Fußballspiel aus der österreichischen Bundesliga. Da das die am wenigsten genutzte Tür in ganz Österreich ist, habe ich mir ein Buch rausgeholt und lese. "Paris - ein Fest fürs Leben", von Ernest Hemingway. Ich wandere durch die Pariser Cafés der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Ich trinke Cognac mit Scott Fitzgerald, ich diskutiere das Leben mit Gertrude Stein und verliebe mich in die Modelle von Jules Pascin, die ihn von beiden Seiten umarmt haben. Mein Leben ist ein Fest. Die Stimme des Chefs bringt mich wieder zurück ins Leben.
FM4 / Ute Hölzl
"Hey du, schmeiß dein verfluchtes Buch weg, mit Büchern kommst du nicht weiter im Leben!" Ich stecke mein Buch weg. Ich würde gerne antworten, dass die Geschichte des Julien Sorel in "Rot und Schwarz" genauso anfängt, das Buch wird dem Protagonisten weggenommen. Mein Chef ist aber sicherlich kein Stendhal-Fan und würde mich nicht verstehen.
Seit frühem Kindesalter habe ich die Welt der Bücher der Realität vorgezogen. Ich war so geistesabwesend, dass mein Vater mich Paganel nannte. Paganel ist der zerstreute Geograph aus "Die Kinder des Kapitän Grant" von Jules Verne, der immer fatale Fehler begeht. Ich wanderte um die Welt auf dem 37. Breitengrad, ich untersuchte die Meerestiefen mit der wundersamen "Nautilus" und kämpfte mit der Natur in der "Geheimen Insel".
Heute entscheidet Kossio, der kein einziges Buch gelesen hatte, über das Schicksal der Bulgaren. Und mein Chef entscheidet über mein eigenes Schicksal. Welchen Nutzen haben die ganzen Bücher, die ich gelesen habe? Ich habe keinen BMW, ich habe nicht mal einen Führerschein. Auf der Kossios Bücherliste, die ich ausgefüllt habe, stand auch "Der Himmel kennt keine Günstlinge" von Erich Maria Remarque, auch als "Geborgtes Leben" bekannt. Kossios Leben kommt mir genauso vor: geborgt. Ich bin nicht neidisch auf ihn. Denn wie schon Stendhal meinte: "Nie waren Erfolg und Schönheit so weit voneinander getrennt."