Erstellt am: 13. 2. 2015 - 15:03 Uhr
Versäumnisse nachholen
"Rückblickend war die Entführung ein Leichtes gewesen. Der Trick bestand darin, selbst nicht zu wissen, was man gerade tat. Überzeugung durch totale Verdrängung: ferngesteuert, wie in einem Film seine Handlungen herunterspulen."
Klever Verlag
Daniela Emminger wurde 1975 in Oberösterreich geboren. Sie lebt und arbeitet als Schriftstellerin, freie Journalistin und Kommunikationsberaterin in Wien. "Schwund" ist 10 Jahre nach ihrem Debüt "Leben für Anfänger" ihr zweiter Roman.
Die etwa 40-jährige Anni König entführt ihre schwer diabeteskranke, beinamputierte und mittlerweile vollständig erblindete Mutter aus dem Krankenhaus. Beide sind die zermürbende Pflege innerhalb des medizinischen Versorgungssystems leid. Anstatt bei der lebenswichtigen Dialyse Händchen zu halten, erscheint es der Tochter fürsorglicher, sich strafbar zu machen und der Todgeweihten ihre letzten Wünsche zu erfüllen.
Frei nach "The Top Five Regrets of the Dying" der ehemaligen Palliativkrankenschwester Bronnie Ware notiert Annis Mutter Karla, dass sie noch einmal den Ort ihrer Kindheit besuchen, noch einmal richtig Spaß haben sowie unter anderem die Liebe nachholen wolle.
Mit dieser Liste beginnt ein literarisches Roadmovie durch halb Europa, das im Mittelteil leider weiter ins Absurde abdriftet als es dem Buch gut tut.
Zunächst begegnen Anni und Karla in einem oberbayrischen Schlossgarten ihrer toten Großmutter bzw. Mutter als junges Mädchen, was man angesichts der emotionalen und bald auch körperlichen Überforderung der Protagonistin noch gern in Kauf nimmt:
"Annis Spannungszustand war eine Dissonanz aus Entscheidungen, Handlungen, Informationen auf der einen und Überzeugungen, Gefühlen, Werten auf der anderen Seite. Sie fühlte sich gehetzt, unverstanden, einsam, verstand selbst die Welt nicht mehr, rannte vor Dämonen davon, einem Briefträger, zwei Schlächtern, einer Riesenspinne auf weißem Grund, anstatt sich ihnen zu stellen. Aber das hier? Ein dürres Mädchen in einem Apfelbaum? Ein weiterer Dämon in Dirndlkleid mit Zöpfchen? Das war zuviel. Ganz offensichtlich wurde sie verrückt."
Klever Verlag
Spätestens aber als Loriot, Hildegard von Bingen und Willi Dungl auf den Plan treten und sich Albert Einstein anschickt, eine Zeitreise zu organisieren, tut man sich schwer, dieser illustren Runde weiter zu folgen.
Dieses skurrile Intermezzo nimmt "Schwund" viel von der Kraft, die der politisch brisante Hintergrund des Romans eigentlich bereitgehalten hätte. Inwieweit kann ein schwerkranker Mensch das Ende seines Lebens selbst bestimmen? Wie gehen wir mit chronischem Leiden, dem Wunsch zu sterben und der Frage von aktiver Hilfe dazu um? Dazu kommt der literarische Dauerbrenner der Entfremdung von den eigenen Eltern, Pflichtbewusstsein bis zur Selbstaufgabe, das Gefühl, nie wirklich ein eigenes Leben gelebt zu haben - alles Themen, mit denen Emminger vielversprechend loslegt, die nach einer Weile aber auf der Strecke bleiben.
Der Autorin gelingt es allerdings, ihren Roman auf den letzten 50 Seiten noch zu retten. Die Handlung wendet sich zurück in die Realität. Emmingers stark beschreibender Stil, ihre medizinischen Erläuterungen und die nüchterne Anteilnahme am Schicksal ihrer Figuren sind dort besser aufgehoben als in Fieberträumen oder aufgestauten Hirnflüssigkeiten. Zudem hat Daniela Emminger das Prinzip der Aufzählung in eine ganz eigene Klasse erhoben. Highlights sind etwa, wenn sie Variationen von Liebe erörtert oder das Leben ihrer Protagonistin als Abfolge von Krankheiten beschreibt:
"Die, mit circa sechzehn festgestellte, Funktionsstörung der Schilddrüse (Hypothyreose?) blieb weitgehend unbehandelt. Mit zunehmenden Alter, weitere Varianten von Gelegenheitswunden, Exsudat an der Kopfhaut vom vielen Haarefärben (selbstdiagnostiziert und behandelt), Exsudat im Ohr (selbstdiagnostiziert und unbehandelt), ein gelegentlicher Scheidenpilz (vaginale Mykose), Nagel- und Fußpilz vom Besuch öffentlicher Bäder (Nagelmykose, Tinea pedis interdigitalis), Blasenentzündungen (Zystitis, Blasenkatarrh). Traumatisch, mit achtzehn, eine Mischgeschwulst aus primitiven, omnipotenten Keimzellen (koätane Dermoidzyste mit Haut, Haaren und Zähnen, Steißbeinteratom). Zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, immer wieder depressive Episoden (teilweise selbstdiagnostiziert und behandelt, teilweise Verschreibung von Antidepressiva in Kombination mit Gesprächstherapie, mehr oder weniger erfolgreich). Mit fünfunddreißig dann Verdacht auf Bandscheibenvorfall..."
"Schwund" ist ein Buch über Familie, Krankheit und Ängste, das offenlegt, dass schwierige Erfahrungen einen nicht zwangsläufig abbrühen sondern im Gegenteil ängstlicher machen können und dessen triviale Lebensweisheiten man letztlich doch noch abnickt.