Erstellt am: 4. 2. 2015 - 21:14 Uhr
Was von Deutschland zu dulden ist
An sich halte ich mich aus dem Kommentieren von Ereignissen in Deutschland und Österreich ja raus, weil ich nicht mehr wirklich verstehe, was sich dort politisch abspielt. Wenn soziale Medien für mich zu was gut sind, dann um mitzukriegen, wie weit weg ich mich nach 18 Jahren Abwesenheit vom dortigen Diskurs entfernt habe.
Hin und wieder gibt es da aber Dinge, wo ein wenig Distanz durchaus für Klarheit sorgt.
Heute morgen zum Beispiel bin ich fast an meinem Frühstück erstickt, als ich im Today Programme ein Interview des altgedienten BBC-Moderators John Humphrys mit dem deutschen Bundestagsabgeordneten Klaus-Peter Willsch über die Möglichkeit und Unmöglichkeit eines Schulden-Deals für Griechenland hörte (im Folgenden meine eigene Übersetzung).
Humphrys: „Einige Leute würden sagen: Es ist ein starkes Stück, dass [die harte Linie] von Deutschland kommt. Historisch gesehen ist es ja noch nicht so lange her, 60 Jahre oder so, dass Deutschland schrecklich hohe Schulden hatte. Beim Londoner Schuldenabkommen im Jahre 1953 wurden diese um 50 Prozent reduziert, und Deutschland bekam 30 Jahre, um das zu bezahlen. Sie kamen damals damit davon, weil es notwendig war, Deutschland wieder aufzubauen. Jetzt ist es notwendig, Griechenland wieder aufzubauen.“
Willsch: „Ähm, wenn sie auf das Londoner Schuldenabkommen zu sprechen kommen, da ging's um sowas wie 5 Prozent des Nationaleinkommens, bei Griechenland sprechen wir von 175 Prozent, also...“
Humphrys: „Trotzdem wurde eine Übereinkunft mit Deutschland erreicht, zu tun, was notwendig war.“
Willsch „Nein nein nein nein. Sie können nicht Dinge vermischen, die nicht zusammengehören. Niemand hat Griechenland gezwungen, Geld anzunehmen, Kredite beim ESM oder der EFSF oder den anderen Euro-Ländern aufzunehmen...“
Humphrys: „Nun, sie wurden dazu ermuntert.“
Willsch: „..das war eine freie Entscheidung. Die haben Verträge unterschrieben, und die müssen sie erfüllen.“
Humphrys: „Was immer mit Griechenland passiert, so sei es?“
Willsch: „So funktioniert Europa. Es gibt bisher keine Zeichen von Reformen oder besseren Entwicklungen, und man kann einen Staat nicht darauf aufbauen, dass man sagt, andere Leute zahlen dafür.“
Da endete das Interview, und ich war fürs Erste einmal des Sprechens nicht mehr mächtig.
Mir war nämlich das Müsli hochgekommen bei dem Satz: „Niemand hat Griechenland gezwungen...“
Das implizierte, dass Deutschland im Gegensatz zu Griechenland zu etwas gezwungen wurde.
Wozu denn wurde Deutschland gezwungen?
Einen Bruchteil des materiellen Schadens zu begleichen, den die von ihm angezettelten Kriege über die Welt gebracht hatten?
Wer hatte nochmal Deutschland gezwungen, die Weltherrschaft anzustreben und Millionen Menschen industriell zu ermorden?
1953 ging es um 16 Milliarden Mark an unbeglichenen Reparationszahlungen vom Ersten Weltkrieg und um die Rückzahlung eines nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den USA geborgten Betrags derselben Höhe. Deutschland wurden nicht nur, wie Humphrys richtig sagte, die Hälfte seiner Schulden erlassen, es musste die verbleibende Hälfte auch nur zurückzahlen, solange es eine positive Handelsbilanz gab, und die jährliche Höhe der Rückzahlungen wurde mit drei Prozent der Exporteinnahmen limitiert.
Aber all das weiß man in Deutschland eh schon aus Artikeln wie denen, die ich dazu beim Durchstöbern des Spiegel finde, von einer ehrlichen Auseinandersetzung mit den wahren Größenordnungen der deutschen Finanzverbrechen im Zweiten Weltkrieg über Belehrungen Griechenlands, in denen die griechische Regierung im Gegensatz zum „zuverlässigen Schuldner“ Nachkriegsdeutschland als „frech“ bezeichnet wird (so als wäre das griechische Vergehen des Schuldenmachens mit den Verbrechen Deutschlands gegen die Menschheit in irgendeiner Weise zu vergleichen), bis hin zum Kommentar von Jan Fleischhauer über Alexis Tsipras' zurecht umstrittenes Zitat vom „sozialen Holocaust“, unter anderem versehen mit der unfassbaren Zwischenüberschrift
“Zum Holocaust duldet Deutschland kein loses Gerede“.
Bevor wir auf Tsipras' Sprachgebrauch überhaupt zu reden kommen:
Was zum Teufel, frage ich mich aus der Distanz, hat hier Deutschland (der Autor maßt sich an, für Deutschland zu sprechen) zu dulden oder nicht zu dulden?
Was hat Deutschland Griechenland, wo deutsche Soldaten unvorstellbare Massaker anrichteten, für die es nie Reparationszahlungen gab, und die zum Teil historisch gängig mit dem Wort 'Holocaust' beschrieben werden, über die Verhöhnung von Nazi-Opfern zu lehren?
Noch dazu, wo Holocaust ein aus dem Griechischen („komplette Verbrennung“, „Massenvernichtung“) kommendes, auch im Englischen schon vor der Shoah gebräuchliches bzw. in weiter Verbreitung auch für Nuklearkatastrophen verwendetes Wort ist. Im Gegensatz zum spezifischen Wort The Holocaust, das in zeitgenössischer Verwendung eindeutig die Shoah bezeichnet.
Das ist nicht einmal der Punkt.
Der Punkt ist, dass in Deutschland (und auch in Österreich), so wie ich das von außen nun immer öfter mit Entsetzen mitkriege, in einer sagenhaft kühnen rhetorischen Umkehrung aus einer moralischen Schuld – die übrigens unendlich viel schwerer wiegt als jede materielle – sowas wie eine perverse moralische Autorität konstruiert wird.
Das ist einfach unüberbietbar infam und nicht mehr kommentarlos mitanzusehen, egal wie groß meine kulturelle Entfernung zum dortigen Diskurs sein mag.
Fleischhauer zieht in seinem Kommentar als vergleichende Autorität zu Tsipras' „törichtem Gerede“ bezeichnenderweise die offenbar überlegene „Kenntnis über das Verbrechen an den Juden“ „jedes deutschen Achtklässlers“ heran.
Als wüssten die das so viel besser als die Griechen, deren jüdische Bevölkerung zu 81 Prozent von den deutschen Besatzern ermordet wurde (was wiederum den Vorwurf des Antisemitismus gegen Yanis Varoufakis anlangt, würde ich erst gerne die Analyse von Robert Misik widerlegt sehen, bevor ich was davon glaube).
Ich hoffe ja, „Deutschland“ erlaubt es, wenn ich mich für meinen Teil in Sachen Holocaust lieber direkt an meine Oma als Quelle halte.
Ob ein Fleischhauer oder ein Willsch das hören will oder nicht: Selbstverständlich haben die Griechen das Recht, die ausgebliebenen Reparationen für deutsche Kriegsverbrechen zu thematisieren. Und natürlich war der Vergleich mit dem Londoner Schuldenabkommen schon lange fällig. Das wusste auch der Spiegel schon seit 2011.
Niemand zwang Deutschland und seine Verbündeten in Österreich und sonstwo zu ihren unsagbaren Verbrechen. Das Leid, das die Nazis anrichteten, war und ist sowieso nicht zu ermessen und daher auch nie zu bezahlen. Der Verzicht auf das Anmaßen moralischer Überlegenheit gegenüber Ländern, die Deutschland einst unterjochte und verwüstete, wäre allerdings das Allereallermindeste, das man sich erwarten darf.