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Sammy Khamis

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6. 2. 2015 - 17:03

Eine ganze Generation wandert aus

Ägypten sei weiter von den Zielen der Revolution entfernt, als unter Mubarak, sagen mir Freunde. Deshalb verlassen unzählige das Land. Die Regierung kann das zwar nicht gut finden – zieht aber Vorteile daraus.

Jedes Mal, wenn ich nach Kairo fliege, muss ich gefühlt 50 Nummern aus dem Adressbuch meines ägyptischen Handys streichen. „Sie lebt jetzt in England.“ „Nein, er ist nach Schweden ausgewandert.“ „Dein Cousin arbeitet jetzt in den Emiraten. Das weißt du nicht?“ Nein, das weiß ich nicht, aber ich kann es nachvollziehen.

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Rund 1,6 Millionen Ägypter unter 35 haben das Land allein 2014 verlassen. Die Mehrzahl davon sind Arbeiter, die ihr Glück in Saudi Arabien oder den ölreichen Emiraten suchen. Die Minderheit sind die sehr gut ausgebildeten zweisprachigen Akademiker, die wir im Westen durch die Revolution kennengelernt haben. Sie sind die Aktivisten des 25. Januar 2011, die Menschen, die einem ganzen Land für viele Monate die Hoffnung gegeben haben, dass sich alles ändern kann.

Sammy Khamis // Park15

Eine Generation "on the run"

Das Problem dabei: Die Mehrzahl der Ägypter will nicht, dass sich alles ändert. Sie wollen Arbeit und ein geregeltes Einkommen. Dafür nehmen sie eine Situation in Kauf „wie wir sie unter Mubarak nie hatten“, konstatiert meine Cousine Mariam. Sie lebt in Hamburg. Seit 2012. Sie hat Ägypten, und damit einen guten Job, eine eigene Wohnung und ihre gesamten Familie zurückgelassen, um in Deutschland in ein Studentenwohnheim zu ziehen. Es sind soziale Rückschritte, die viele Ägypter in den ersten Jahren nach der Revolution in Kauf genommen haben. Wer nach Europa geht, bekommt - wenn er Glückt hat - ein Stipendium mit weniger als 900 Euro pro Monat. In Ägypten kann man gut davon leben. In Nordeuropa? No chance.

Die umfangreiche Verfolgung und Verurteilung von Aktivisten und unliebsamen Journalisten nimmt in Ägypten derzeit ungekannte Ausmaße an. Innerhalb einer Woche wurde der australische Journalist Peter Greste nach 400 Tagen in Haft entlassen. Der Aktivist Ahmed Douma wurde mit 230 anderen Angeklagten verurteilt. Zu lebenslanger Haft.

Viele Ägypter, vor allem in meinem Freundeskreis, wollten Ägypten nur für einige Monate, vielleicht für ein Jahr verlassen. „Bis alles besser wird“, erinnert sich Nour in einem Café im verschneiten München. Nour studiert in Frankfurt an der Oder. Sie macht ebenfalls einen Master. Nach zweieinhalb Jahren spricht sie perfekt Deutsch. Bald ist sie mit ihrem Studium fertig „und dann suche ich erstmal in Deutschland einen Job.“ Ägypten? No chance. „Es geht nicht ums Arbeiten, ich hatte einen guten Job in Kairo. Das Land ist am Ende. Ich kann nicht zurück.“

Es ist ein signifikanter Brain Drain, also ein Abwandern gut ausgebildeter Akademiker, der Ägypten zu schaffen macht. Die Regierung sollte etwas dagegen unternehmen. Aber der Präsident Abdel Fattah as-Sisi hat selbst im zweiten Jahr seiner Regentschaft keinen großen wirtschaftlichen oder demokratischen Plan vorgelegt, der der Perspektivenlosigkeit einer gesamten Generation entgegenwirkt. Im Gegenteil. Die ägyptische Wirtschaft schwächelt noch immer. Der Tourismus erholt sich nur langsam. Deswegen wandern viele Arbeiter in die Emirate ab. Das hat in Ägypten Tradition. Die Überweisungen von Ägyptern aus dem Ausland sind der drittwichtigste Beitrag zur ägyptischen Volkswirtschaft.

Sammy Khamis // Park15

Volkskrankheit Brain Drain

Was also macht die Regierung gegen diesen Exodus? Bisher wenig. Aus zwei Gründen: Arbeiter die Geld nach Ägypten überweisen Schaden der eigenen Wirtschaft nicht. Und kritische Köpfe, die dem Land den Rücken zuwenden, sind weitere unangenehme Stimmen, um die man sich nicht mehr kümmern muss. Das gilt für die revolutionäre Jugend genauso, wie für die Anhänger der gestürzten und mittlerweile verbotenen Muslimbruderschaft. Sie sind die lautesten Kritiker der aktuellen Regierung.

Dass viele Künstler das Land verlassen, liegt laut diesem Artikel von Ruth Michelson am drastischen NGO-Gesetz, das die Arbeit von Kultureinrichtungen aus dem Ausland (die traditionell eine kritische Kulturarbeit der Jugend unterstützt haben) behindert. Das Gesetz erschwert es NGOs in Ägypten zu arbeiten.

"Bis es keine Ägypter mehr am Nil gibt."

„Ich liebe Kairo, deswegen bleibe ich. Man braucht nicht viel Geld, ich habe hier mein Netzwerk, und wenn alle anderen das Land verlassen, dann braucht es Leute, die Konzerte organisieren“, meint Mahmoud Refat, Elektromusik Pionier in Kairo. Downtown ist sein Revier. „Es passiert gerade unglaublich viel in der Musikszene. Es ist so spannend, dass ich gar nicht weg kann.“

Mahmouds Nummer, das weiß ich, werde ich wohl nie aus meinem Adressbuch löschen müssen. Er bleibt einer der wenigen, der das Land verlassen könnte, es aber nicht macht. Meine anderen Freunde haben jetzt eine deutsche oder britische Vorwahl. Ich treffe sie in Berlin, könnte sie aber auch in Norwegen besuchen. Viele erzählen dann wehmütig von Ägypten, der Revolution und der Hoffnung, die damals alle hatten. Fast alle fahren mehrmals im Jahr nach Kairo, und alle kommen mit einem Gefühl zurück. Ein Gefühl, dass sie bestärkt in Ägypten derzeit nicht leben zu können. Für manche auch, weil es für Aktivisten einfach zu gefährlich ist. Allein am Jahrestag der Revolution, am 25. Jänner, starben 18 Menschen. Aber auch der Rest erkennt, dass Ägypten gerade kein Ort ist, an dem sie leben können. Deshalb ist sich Nour, die in Frankfurt studiert, sicher: “Könnten alle Ägypter reisen, es gäbe mehr Ägypter im Ausland, als am Nil.”

Reality Check am Samstag

An under-reported but amazingly massive exodus of Egyptians under 35, a military President whose uniform appears to be wolf-in-sheep’s-clothing, a missing millions money trail laid out by one of two ex-Presidents, a protest law defied, a voice not easily silenced despite torture in prisons filled beyond capacity with critics of a regime that enjoys surprisingly big domestic support. The Egyptian revolutionaries of 2011 say they are down but not out four years after the Original 2011 Egyptian Revolution (because the past four years have harvested two (!!) revolutions).

Join Hal Rock this Saturday at 12 midday on FM4’s Saturday Reality Check Special: “RevolutionFail - 4 Years After”.