Erstellt am: 3. 2. 2015 - 16:37 Uhr
The daily Blumenau. Tuesday Edition, 03-02-15.
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
"Da oben", sagt das Kind, und hebt den Zeigefinger gen Himmel, "da oben, Mond!". Es ist mitten am Tag, wintersonnig gar, wir befinden uns auf einer menschenbrodelnden Einkaufsstraße voller Auslagen, ringsherum bellen Hunde, kichern Halbwüchsige, kreischen Kinder, blöken Erwachsene, kreuzen Radler und Hustler, tuckern Automobile und verrichten Bagger ihr Tagewerk. Es gibt so viel zu sehen, zu hören, zu greifen, zu spüren in Hör- und Greifweite, auf Sichthöhe. Und das Kind entdeckt den gut dreiviertelvollen Mond, der am helllichten Tag verstohlen am Himmel steht; obwohl das doch gar nicht sein Hauptjob ist.
Der des Mondes.
Der des Kindes auch nicht.
Obwohl: dieses Denken und Handeln outside the box, jenseits der eingefahrenen Denkkonventionen, diese für alle Box-Insassen überraschenden Ausreißer, das ist das, was das Kind oft und gerne macht.
Alle Kinder.
Die können das.
Keiner der vielen Erwachsenen auf der großen Einkaufstraße hatte den Mond gesehen. Obwohl er auffallend unpassend da oben prangte.
Diese Fähigkeit, seine Sinne außerhalb der Box einzusetzen, hat eine Grundlage: Sicherheit.
Das mondsichtende Kind kann sich sicher sein, kindgerecht transportiert, gekleidet, gefüttert und geschätzt zu werden. Und so seinen Blick auf die Welt erweitern.
Im besten aller Fälle wird das Kind diese Sicherheit auf dem Weg zum Erwachsenwerden mitnehmen und den erweiterten Blick behalten. Auch wenn es irgendwann selber für die Basics sorgen wird müssen.
Dieser Blick, der ist entscheidend, er macht wohl den Unterschied zwischen einem selbst- und einem fremdbestimmten Leben aus. Wer den Mond nicht erkennen kann, wer nicht zumindest hin und wieder einen Schritt zurück oder heraus (oder auch: hinein) macht, um seine Perspektive zu ändern, wird schwer den Weg raus aus den Hamsterrädern finden.
Allerdings wird das eh nicht gerne gesehen: dass man raustritt und sich das größere Bild ansieht. Erwachsene Menschen, die das gut können und deshalb immer wieder machen, werden gerne als Spinner hingestellt, vor allem, wenn die große Mehrheit sich da inside the box befindet. Und neben den rabiaten Alpha-Tieren sind es meist solche, die man als Nerds und Spinner hinstellen wird, und damit wieder (eher unbewusst als bewusst) auf den Kinder-Status reduziert; wiewohl es genau die dort schon geübte Blickweise ist, die den Unterschied macht.
Dabei sind es neben den vor Selbstsicherheit Strotzenden eben die Nerds und die Kindgebliebenen, die für jeden Denkfortschritt der Menschheit verantwortlich sind; also jene, die überhaupt erst zur Arterhaltung beigetragen haben.
Und nicht die anderen, die im Hamsterrad, die in der Box drinnen.
Und das obwohl die glauben, dass sie sie es sind, die die Menschheit tragen, mit ihren gesenkten Blicken und ihrer selbstbezüglichen Befindlichkeit.
Mit ihrer Angst.
Und ihrer Unsicherheit.
Die sie mit viel Forderung nach viel nachgereichter Sicherheit überspielen. Einer nachgereichten Sicherheit, die die grundsätzliche, früh mitgegebene nie ersetzen wird können.
Es ist natürlich nicht nur die fehlende Grundsicherheit, die ein Grundgefühl der Ängstlichkeit und später eine Lebens-Angst erzeugen, es sind auch noch dutzende andere Sozialisations- und Umwelt-Faktoren. Wer allerdings schon früh Unsicherheit erfährt und damit keine Zeit mehr für den Blick- und Perspektivwechsel hat, der wird umso schwerer in die denkerische Leichtigkeit zurückkommen können.
Und je weniger der Blick offen und frei für die Möglichkeiten anderer Wahrnehmungen ist, desto stärker verfestigen sich Annahmen, desto härter werden Klischees, desto bitterer das Bild von Gegenwart und Zukunft, von Mitmenschen und dem Vertrauen ins Selbst.
Das ist es, was die scheinbar aus so vielen unterschiedlichen Schichten kommenden Wird-man-ja-noch-sagen-dürfen-Wuthochwürger eint: nichts Ideologisches, sondern die fehlende Sicherheit und die Angst. Die von Ideologen (meist solchen mit einschlägigen Historien-Bezügen) aufgegriffen und instrumentalisiert werden.
Das Spiel auf der Klaviatur der Angst erfordert wenig Virtuosität (es reichen schon echte Schweinereime), stichprobenartige Vorurteils-Fütterung und keinerlei Differenzierung. Die Angst spricht bei der kleinsten Assoziation an und verschwindet erst dann, wenn im sicheren Rudel, im Kollektiv diverse Sicherheits-Forderungen eingebracht werden. Danach Schultergeklopfe und vereinzelnde Zerstreuung bis zum nächsten Angst-Ausbruch. Auf dieser Logik basieren die Angstmärsche durch die Innenstädte.
Die Hoffnung auf eine weitgehend angstfreie Gesellschaft im Raubtierkapitalismus ist unsinnig - Konsumismus baut zu einem großen Teil drauf auf; Widerstand wird weiter nur an den Rändern und in den Eliten existieren.
Die Hoffnung auf einen Abbau der angsterfüllten Sicherheitslogik verunsicherter Menschenkinder allerdings ist real. Sie liegt in den Händen derer, die sich in ein vom Einzelnen beeinflussbares Erziehungs/Bildungs-System einbringen. Und es möglich machen können, den Mond auch untertags zu sehen.