Erstellt am: 2. 2. 2015 - 11:34 Uhr
Ein Anderer sein mit Anderen
Wer sich halbwegs ernsthaft für Songs, Literatur oder auch Kino interessiert, für den zugehörigen Schaffensprozess und die Künstler dahinter, wer deren Motivationen abseits von tausendfach gehörten Klischees wirklich verstehen will oder selber seinen eigenen kreativen Blickwinkel schärfen, der kommt an diesem Film nicht vorbei.
"20.000 Days On Earth" ist die Antithese zu den üblichen Musiker-Dokumentationen, die alle ähnlichen Mustern folgen. Der von Iain Forsyth und Jane Pollard gedrehte Streifen nähert sich der Person und dem Werk von Nick Cave ohne endlose Live-Sequenzen, die von flotten Backstage-Impressionen und Interview-Smalltalk unterbrochen werden.
Das britische Regieduo verzichtet aber auch auf die verlogenen Tricks der Realityshow-Gegenwart, die vermeintliche Wahrheit verspricht, wenn Prominente mit der Kamera in intimen Momenten verfolgt werden. Forsyth und Pollard verachten nicht nur diese Pseudo-Authentizität der Wackelkamera-Generation. Die Filmemacher, die Nick Cave bereits von früheren Projekten kennen, wollen den Mythos rund um ihn gar nicht demontieren. Schließlich, meinen sie, sei unsere Welt ohnehin platt und entzaubert genug.
Anstatt belanglose Banalitäten aus dem Alltag des australischen Rockstars, düsteren Poeten und manischen Drehbuchautors offenzulegen, versucht "20.000 Days On Earth" also im Gegenteil die Eigenheiten Caves zu betonen, das Besondere zu forcieren, das Mysterium zu wahren. Dabei geht der Film so weit, dass der Portraitierte am Drehbuch mitschreiben durfte und in kunstvoll stilisierten Sequenzen eine Version von sich selbst spielt.
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Wirklichkeit und Traum verschmelzen
Wer jetzt aufschreit, Selbstbeweihräucherungs-Festspiele befürchtet und eine Egozentriker-Orgie für eingefleischte Nick-Cave-Jünger only, liegt aber völlig falsch. Iain Forsyth und Jane Pollard wissen, wie beispielsweise auch der heimische Ausnahmeregisseur Ulrich Seidl, dass die bemühte Echtheit von Dokumentarfilmen ebenso eine Frage der Inszenierung ist.
Warum nicht gleich ein artifizielles Setting schaffen, in dem man Mr. Cave einen Raum für seine Gedanken und Reflexionen gibt? Genau am zwanzigtausendsten Tag seines Daseins begleitet der Film den Ausnahmekünstler durch seinen Wohnort Brighton, Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Traum verschmelzen dabei konstant.
Der einstige Bühnenwüterich, Schmerzensmann und Ex-Junkie, der längst ein aufgeräumtes und genau strukturiertes Arbeits- und Familienleben führt, fährt in seiner Luxuskarosse durch die englische Küstenstadt, trifft einen Psychoanalytiker, dem er Details aus der Kindheit offenbart, isst mit Musikerkompagnon Warren Ellis zu Mittag (auch dessen Haus ist pure Kulisse), halluziniert Begegnungen mit Wegbegleitern wie Blixa Bargeld oder Kylie Minogue.
Nick Caves Frau, das Model Suzi Bick, huscht (auf eigenen Wunsch) nur schemenhaft durch das Bild, wird aber von ihrem Gatten in einem irrlichternden Monolog als Göttin beschworen, die sämtliche seiner amourösen Projektionen vereint. Die Zwillingssöhne dagegen knotzen sich mit dem Papa auf die Couch, verschlingen Pizzastücke, aus dem Fernseher dröhnt die Tonkulisse des blutigen Gangsterepos „Scarface“. Die Grenzen zwischen einem Tarantino-Streifen, mit einem Protagonisten, der auch mit Mitte Fünzig noch dem herrlichsten Zuhälter-Chic huldigt, und einer Privatdoku verschwimmen.
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Aus Sprache eine Welt erschaffen
Wenn sich das alles jetzt bloß nach lustvollem In-Szene-Setzen und spielerischen Posen anhört, dann nur, weil ich den wichtigsten Punkt noch nicht erwähnt habe. Nick Cave redet in "20.000 Days On Earth" fast pausenlos, ob via Off-Monolog, der über etlichen Sequenzen liegt, oder mit seinen diversen Gesprächspartnern.
Diese inspirierenden, klugen, berührenden Satzfeuerwerke, die man am liebsten pausenlos mitschreiben möchte, stehen allerdings in keinem Drehbuch. Iain Forsyth und Jane Pollard destillierten aus etlichen Stunden Material die schlüssigsten Thesen und Aussagen des Nicholas Edward Cave.
Ein Film also, mit einem alternden Rocker, der sich selbst gerne beim Philosophieren zuhört, kann das tatsächlich spannend sein? Um auch diesen Einwand hinwegzuwischen: Es geht in diesem endlosen Sprachfluss auch um die Sprache selbst, um die Bedeutung von Worten, mit denen sich bereits der blutjunge Nick Cave ein eigenes Universum erschuf, abseits der Regeln und Vereinbarungen der regierenden Maschinerie.
Und dieser Schöpfungsakt, dieses selbst erdichtete Kosmos, den man immer wieder betreten kann, wenn der Terror des Alltags übermächtig wird, treibt auch den erwachsenen Künstler an. Großartig, wenn Cave in diesem Kontext auch von seinem Vater erzählt, einem Lehrer und Bildungsbürger par excellence, der die eigene Steifheit nur dann verloren hat, wenn er dem Sohn ganz versunken eine Geschichte vorgelesen hat. Die Buchstaben, die Noten, die Kritzeleien auf Papier: Durch die Kreativität wird der Mensch für kostbare Augenblicke zu einem Anderen.
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Transformation und Kommunikation
Im Vergleich zu modernen Selbsthilfeberatern und Lifestyle-Gurus predigt Nick Cave aber nicht, dass wir die Fesseln unserer degenerierten Existenz abschütteln sollen, um dauerhaft zu jenem Wesen zu mutieren, dass sich tief in uns verbirgt. Der Australier weiß, dass das Andere und das damit verbundene Glück wie auch die dazugehörige Radikalität eben nur in ephemeren Momenten existiert.
Die Transformation, von der in "20.000 Days On Earth" immer wieder die Rede ist, diese Verwandlung in einen heiligen Zustand, wo wir via Sex, Rock'n'Roll oder bisweilen auch einfach nur im Kinosaal sitzend, über den Dingen schweben, sie stellt sich einzig im Zusammenhang mit der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit ein.
Zentral dabei ist für Nick Cave aber in Anwesenheit Anderer zum Anderen zu werden. Nicht die früheren Groupies, der Exzess oder die reinigende Katharsis, nicht der heutige Ruhm, die Eitelkeit oder gar das Geld sind es, die ihn dazu treiben, mit seinen Bad Seeds ins Studio zu gehen. Was als fundamentalste Motivation übrigbleibt, ist die künstlerische Kommunikation mit anderen Musikern. Der gemeinsame Funke, der sich beim Komponieren entfacht. Der unglaubliche Kick, wenn ein Song noch halbfertig ist und jeder Ideen beisteuert.
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Wenn ausgerechnet Nick Cave, der ungezählte Stunden in seinem Office einsam hinter der alten Schreibmaschine sitzt, den Geniebegriff dekonstruiert und von Kollaboration schwärmt, dann wird die ambitionierte Spieldoku beinahe zum glühenden humanistischen Manifest. "20.000 Days On Earth" ist in jedem Fall unendlich viel mehr als ein Fanmovie. Wer wissen will, warum sich Menschen auch in einer Zeit, in der Popkultur wie ein sinkendes Schiff wirkt, den ganzen Wahnsinn des Musizierens und Schreibens noch antun, dem könnte Nick Cave ein paar zentrale Antworten geben.