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Irmi Wutscher

Gesellschaftspolitik und Gleichstellung. All Genders welcome.

27. 1. 2015 - 16:42

"Die Uhr, die nicht tickt"

Sarah Diehl hat für ihr Buch nach Gründen gefragt, warum manche Frauen lieber kinderlos bleiben wollen. Und damit ein ganzes sozialpolitisches Konfliktfeld aufgemacht.

Bei Frauen ab Mitte dreißig - so heißt es - tickt die biologische Uhr immer lauter: Denn die Fruchtbarkeit nimmt ab diesem Alter ab, die Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, wird immer kleiner. Deswegen würden Frauen ab diesem Alter eine Art Torschlusspanik entwickeln, noch schnell den richtigen Partner (in einigen wenigen Fällen auch: die richtige Partnerin) zur Familiengründung zu finden. Ein gefundenes Fressen für Partnervermittlungsbörsen und Frauenmagazine.

FM4 Auf Laut
    Sarah Diehl: "Die Uhr die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift"

    Arche Verlag

    Sarah Diehl: "Die Uhr die nicht tickt. Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift" ist im Arche Verlag erschienen.

    Was aber, wenn frau diese Uhr nicht ticken hört, den großen, unbedingten Kinderwunsch nicht verspürt? Der Autorin und Filmemacherin Sarah Diehl geht es so: Sie ist selbst Akademikerin, Mitte dreißig und kinderlos glücklich. Sie hat sich die Gründe angesehen, warum sich Frauen gegen Mutterschaft entscheiden und darüber das Buch "Die Uhr, die nicht tickt - Kinderlos glücklich. Eine Streitschrift" geschrieben.

    "Die Gesellschaft hat die Vorstellung, dass Frauen der Kinderwunsch angeboren ist", sagt Sarah Diehl. Sie hat aber herausgefunden, dass für viele Frauen ein Kind nur eine Option unter mehreren ist, keine zwangsläufige oder naturgegebene. Für ihr Buch hat sie verschiedene Frauen interviewt, die sich dagegen entschieden haben, Kinder zu bekommen. Prekär lebende Akademikerinnen aus Berlin-Kreuzberg waren da genauso dabei, wie Frauen, die auf dem Land ein Wirtshaus betreiben oder Migrantinnen und Frauen mit Behinderung.

    Dabei ist sie auf vielfältigste Gründe gestoßen, kinderlos zu bleiben: von der Unsicherheit der eigenen Situation bis zur Sorge über die gegenwärtige wirtschaftliche Situation oder Umwelt. Vom fehlenden Partner bis zur Skepsis, wie die Betreuungsarbeit in der Beziehung aufgeteilt wird.

    Die egoistischen Kinderlosen

    Seit Ende der Neunziger Jahre, so konstatiert Diehl, geht es in der öffentlichen Diskussion nicht mehr vorrangig um Geschlechtergerechtigkeit, sondern um Generationengerechtigkeit. Die Babyboomer kämen langsam ins Pensionsalter - die Generationen nach ihnen wären aber zahlenmäßig weniger und brächten das Pensionssystem ins Wanken.

    In Österreich liegt die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau liegt derzeit bei 1,44 Kindern und ist seit den 60er-Jahren stets gesunken. Seit den 2000er Jahren hat sich die Zahl der Neugeborenen bei rund 75.000 eingependelt. Was hierzulande steigt, ist das Gebäralter: haben Frauen 1984 ihr erstes Kind noch durchschnittlich mit 23,8 Jahren bekommen, ist das heute mit durchschnittlich 29 Jahren der Fall. Das liegt wohl auch an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen - Stichwort lange Ausbildungszeiten und Generation Praktikum.

    Die öffentliche Debatte um kinderlose Frauen wirft ihnen Egoismus vor, so Sarah Diehl. Es wird sogar von einem "Gebärstreik" gesprochen. Kinderlose Männer stehen weniger in der Kritik - dabei könnte man auch die umgekehrte Frage stellen: ob es sich nicht eher um einen Zeugungs- als um einen Gebärstreik handelt. Denn insgesamt ist der Prozentsatz der Kinderlosen unter den Männern höher als unter den Frauen - laut einer Studie des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung waren im Jahr 2002 57,5 Prozent der Männer kinderlos, aber nur 37,8 Prozent der Frauen.

    Dieselbe Studie besagt übrigens, dass Männer zwar insgesamt später als Frauen Kinder bekommen, dass aber jenseits des Alters von 45 Jahren eine erstmalige Vaterschaft ein gleichermaßen seltenes Ereignis ist, wie eine erstmalige Mutterschaft. Die Annahme, dass Männer sich unbegrenzt Zeit lassen können, bis sie Familie gründen, ist also zumindest statistisch nicht haltbar. Ganz abgesehen davon, dass auch die Qualität der Spermien mit dem Alter abnimmt.

    Meike Dinklage hat auch kinderlose Männer für ihr Buch "Der Zeugungsstreik" nach Motiven befragt - Antworten waren da: weil sie ihr Leben nicht ändern wollen, weil sie sozialen Abstieg fürchten, weil sie später auch noch Familie gründen können. Übrigens bleiben bei den Frauen eher die höhergebildeten kinderlos, während es bei den Männern eher die schlecht ausgebildeten sind.

    Dass Männern insgesamt weniger Vorwürfe gemacht werden, wenn sie kinderlos bleiben, dahinter vermutet Diehl auch das Bild, dass es für Vaterschaft ausreicht, ein paar Spermien abzugeben. Sie hatte ursprünglich auch Männer für ihr Buch interviewen wollen, aber nach ersten Gesprächen festgestellt, dass kinderlose Männer sich oft gar keine Gedanken über ihre Situation gemacht hatten. Sie mussten sich oft gar keine gewichtigen Gründe zurechtlegen, um ihre Situation zu "verteidigen".

    Vereinbarkeit mit Beruf und/oder Beziehung

    Die Bereitschaft, mit dem/der PartnerIn eine Familie zu gründen, gilt oft als Beweis für die wahre Liebe. Viele Frauen sagten in den Interviews für das Buch aber, sie würden Kinder eher als Belastungsprobe für Beziehungen wahrnehmen - und nicht alle wollten ihre Beziehung dem aussetzen. In unserer Gesellschaft würden Frauen, die sich für Familie entscheiden, wieder abhängiger vom Wohlwollen des Mannes werden. Mit Kind(ern) können Frauen nur soweit kommen, wie sie von ihrem Partner bei der Arbeitsteilung unterstützt werden.

    "Diese Projektion, das Kinderlose nichts für die Gesellschaft tun, das ist doch ein schiefes Bild", sagt Sarah Diehl. "In Wirklichkeit sind es doch die Eltern, deren Kapazitäten abgezogen werden, von der Gesellschaft in die Familie hinein." Eine Frau im Buch sagt sogar "Familie ist Privatisierung" und meint damit, dass sie mit politischem Engagement mehr für die Gesellschaft leisten könne, als als Mutter.

    Taschenuhr

    CC-BY-SA-2.0 / duca / flickr.com/a-herzog

    Das Ideal der Kleinfamilie

    "Ich denke, dass Frauen über ihre Gebärfähigkeit immer dazu konditioniert werden, sich schuldig zu fühlen und deswegen gewissen Arbeiten in unserer Gesellschaft zu machen. Sich für Pflege- und Fürsorgearbeit generell zuständig zu fühlen - oft geht es sehr darum, sich davon zu befreien!", sagt Sarah Diehl im Interview. Gesellschaft und Politik hätten es verabsäumt, ein zeitgemäßes Konzept zur Mutterschaft zu entwickeln. Ohne Pflege- und Fürsorgearbeit der Frauen bricht aber ein Grundpfeiler der bürgerlichen Solidargemeinschaft weg - deswegen ist das Thema auch ein so umstrittenes. Sarah Diehl zitiert Nikolaus Bernaus Artikel "Die Kleinfamilie ist ein historischer Sonderfall": Die heutige Teil-Auflösung dieser Kleinfamilien ist (hingegen) nicht das Resultat moralischer Verrottung sondern neuer wirtschaftlicher und kultureller Bedingungen.

    Sarah Diehl fragt darauf, "wie viel die Kleinfamilie überhaupt noch taugt, wenn sie beim Wegfall des sozialen Drucks so leicht auseinanderfällt." Nicht wir sollten uns also am Vater-Mutter-Kind-Ideal abarbeiten, so eine zentrale These des Buchs, die Gesellschaft und die Politik sollten sich an die veränderten Gegebenheiten anpassen.

    Zugriff des Staats

    Wer sich da näher einlesen will: Philippe Ariès hat das Thema mit der "Geschichte der Kindheit" aufgearbeitet. Foucault hat den Zugriff des Staats und die Regulierung der Fortpflanzung seiner "Untertanen" in der Vorlesungsreihe "Geburt der Biopolitik" behandelt.

    Die kinderlose Frau ist aus staatlicher Sicht unerwünscht, denn die Kleinfamilie gilt als die "Keimzelle des Staates". Dahinter steht unter anderem die Annahme, dass Bevölkerungswachstum notwendig ist, um Wirtschaftswachstum anzukurbeln - eine Annahme, die laut Sarah Diehl grundsätzlich zu hinterfragen ist.

    Global gesehen wäre eine Reduzierung der Bevölkerung wichtig - wegen Überbevölkerung, Umweltbelastung und Ressourcenverbrauch - und zwar auch oder sogar vor allem in den Industrienationen. Der Ressourcenverbrauch eines Europäers oder Nordamerikaners ist um ein Vielfaches größer als der eines Äthiopiers oder eines Inders.

    Kinder ja, aber nur von bestimmten Frauen

    Daher stellt Sarah Diehl die Frage: Geht es wirklich um ein quantitatives Mehr an Kindern? "Es ist ja nicht so, das wir alle mehr Kinder haben sollen und die sind dann alle willkommen und werden unterstützt - das sind ja ganz bestimmte Frauen, von denen wir das wollen!" Und das wären nicht die Migrantinnen, nicht "bildungsferne" Schichten oder arme Frauen - sondern Akademikerinnen sollen Kinder bekommen gegen die "Verdummung" der Gesellschaft - bei gleichzeitigem Abbau von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen.

    Im Buch sind Interviews mit zwei afrodeutschen Frauen enthalten, die sehr zwiespältige Reaktionen auf ihre Mutterschaft bzw. Verweigerung der Mutterschaft beschreiben. Besonders deutlich zeigt sich die Frage der un-/erwünschten Schwangerschaften im Interview mit einer Frau mit Behinderung: Bei ihr hatten ÄrztInnen und BetreuerInnen immer alles unternommen, eine Schwangerschaft zu verhindern - und ihr auch permanent davon abgeraten. Für Frauen mit Behinderung ist es meist auch kein Problem, eine Abtreibung zu bekommen oder sich sterilisieren zu lassen.

    "Das heißt Kinderlosigkeit ist vielleicht für Mittelstands-Frauen oder Akademikerinnen eine Form von Widerstand. Mutterschaft kann aber auch Widerstand sein, für Frauen bei denen das nicht erwünscht ist", sagt Sarah Diehl. "Mir geht es ja nicht darum, Kinderlosigkeit als DAS Rebellische zu ideologisieren, sondern zu hinterfragen, warum Mutterschaft so ideologisch aufgebauscht ist."

    Für Soziale Elternschaft

    Und noch ein Buchtipp: Sushila Mesquita entwirft in ihrem Buch "Ban Marriage" alternative Konzepte (queerer) Elternschaft/Familie, die über die Kleinfamilie hinausgehen.

    Die Realität hat sich längst über die Vater-Mutter-Kind-Kleinfamilie hinausbewegt, es sind verschiedene Formen von Zusammenleben entstanden: Pflegeelternschaft zum Beispiel oder Patchworkfamilien, wo man mit Kindern des Partners oder der Partnerin zusammenlebt, die nicht die eigenen sind. Es gibt Hausgemeinschaften, in denen es viele Kinder gibt und in denen sich mehrere Leute um diese Kinder kümmern. Homosexuelle Paare leben alternative Konzepte schon seit langem vor und haben neue Wege erschlossen, an denen sich auch Hetero-Paare orientieren könnten.

    Was aber fehlt, ist die Würdigung sozialer Elternschaft durch die Politik. Zwei verheiratete Menschen, das ist für den Staat immer noch die gewünschte und damit am besten subventionierte Familienform. Sarah Diehl nennt das Beispiel Kanada, wo mittlerweile weiter gedacht wird: "In Kanada gibt es ein neues Gesetz, da heißt es, dass bis zu vier Personen soziale Eltern für ein Kind sein können. Für mich ist das der richtige Weg."

    Aufteilung der Sorgearbeit

    Vielleicht ist Kinderlosigkeit von Frauen auch deswegen so umstritten, weil sie unbequeme Fragen aufwirft: Unsere Gesellschaft steht generell vor dem Problem, dass Pflege und Fürsorge organisiert werden müssen. Und dass sich die eine Hälfte der Gesellschaft das zum Teil nicht mehr aufgrund von emotionalem Druck und Rollenvorgaben aufhalsen lassen möchte. Kinderlosigkeit rüttelt an diesen gesellschaftlichen Strukturen, weil es für Frauen oft die effektivste Möglichkeit ist, diesen Zwängen aus dem Weg zu gehen.

    Heute in FM4 Auf Laut: Die Uhr die nicht tickt

    In FM4 Auf Laut sprechen wir heute, Dienstag, von 21 bis 22 Uhr über freiwillige und vielleicht doch nicht ganz so freiwillige Kinderlosigkeit.

    Judith Revers begrüßt im Studio Flüchtlingsbetreuerin und Lektorin Verena Hlawinka und die selbstständige Wissenschaftlerin, Filmemacherin und Musikerin Sol Haring.

    Du kannst ab 21 Uhr mitdiskutieren!

    Die Nummer ins Studio: 0800 226 996
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