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Robert Zikmund

Wirtschaft und Politik

27. 1. 2015 - 11:00

Flucht nach Israel

70 Jahre nach dem Holocaust wandern alleine aus Frankreich siebentausend jüdische Mitbürgerinnen nach Israel aus. Auch in Österreich steigt die Unsicherheit. Woher kommt der „neue“ Antisemitismus?

Der aktuelle Roman von Michel Houellebecq, „Unterwerfung“, ist natürlich nur politische Fiktion, dennoch irritiert der Schriftsteller vor allem durch subtil verwobene Anknüpfungspunkte zur Realität. Etwa was die Auswanderung von immer mehr Menschen nach Israel betrifft. Aus der gesamten EU sind 2013 etwa zehntausend Menschen nach Israel gegangen, mehr als die Hälfte davon kommen aus Frankreich.

Angst, jüdische Symbole offen zu tragen

Wächst der Antisemitismus in Europa?: Audio- und Video-Beiträge in der ARD-Mediathek

Das große Problem Frankreichs, so der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger, ist die Demografie, vor allem in den großen Städten, allen voran natürlich in Paris. Dort leben jüdische und arabisch-muslimische Communities, die zum Teil sogar beide aus dem Maghreb stammen, dicht an dicht, oft sogar im gleichen Viertel. Und gerade in letzter Zeit, befeuert durch Ereignisse wie Terroranschläge, steigt die Angst der jüdischen Bevölkerung, offen zu ihrem „Jüdisch-sein“ zu stehen.

Auch im deutschen Sprachraum ist dieser beängstigende Trend längst angekommen. So empfiehlt etwa die Präsidentin der Münchner Kultusgemeinde ihren Mitgliedern, keine jüdischen Symbole auf der Straße zu tragen.

Der Präsident der österreichischen IKG, Oskar Deutsch, hält davon wenig. Allerdings ist das erneute Erstarken des alten Gespenstes Antisemitismus auch in den jüdischen Communities Österreichs zu spüren, so sagte etwa die Filmemacherin Ursula Raberger im ORF Kulturmontag:

Es gab in Wien zig Demonstrationen, die eben auch antisemitischen Charakter hatten. Für mich persönlich hat dieser Antisemitismus eine neue Qualität, die ich so noch nie erlebt habe. Ich habe mich in Wien vorher noch nie gefürchtet, ein T-Shirt mit hebräischen Schriftzeichen oder dem Davidstern zu tragen – das hat sich geändert.“

Und der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, Oskar Deutsch, ergänzt: „Wir hatten es in der Vergangenheit mit dem traditionellen Antisemitismus von rechts und von links zu tun, dazugekommen ist der islamistische Antisemitismus, der noch um einiges gefährlicher ist.“

Antisemitismus von recht, links und von Islamisten

Leider stehen diesen Befürchtungen auch bereits Taten entgegen, breit wahrgenommen wurde die Debatte allerdings erst im Zuge eines anti-israelischen Platzsturmes bei einem Fußballspiel von Maccabi Haifa in Bischofshofen. Allerdings gab es sowohl vorher als auch nachher immer wieder Vorfälle, die zeigen, dass dies kein Einzelfall war. Ein besonders trauriger Tag ist dabei immer der sogenannte „Al-Quds-Tag“, der 2014 am 26. Juli stattfand. Viele jüdische Mitbürger sehen diesen aus dem Iran stammenden Tag als „antisemitischen Feiertag des iranischen Regimes, wo Rechte, Linke und Islamisten zusammen gegen Israel protestieren.“ Aber auch eine Woche zuvor fand, ebenfalls in Wien, eine Pro-Palästina Demonstration statt, zu der die umstrittene Union Europäisch-Türkischer Demokraten eingeladen hatte, kurz: UETD.

Antikapitalistischer Antisemitismus

Bei derlei Veranstaltungen haben viele jüdische Mitbürger mehr als nur ein bisschen Bauchweh, was auch am bizarren Bündnis aus antikapitalistischen Linken, Rechten und Islamisten liegt. Wenn etwa manche linke Gruppen gemeinsam mit Hamas- oder Hisbollah-Sympathisanten marschieren und „Israel-Terrorist“ skandieren oder mitten in Österreich Parolen wie „Hamas, Hamas, Juden ins Gas“ zu hören sind, muss man wohl von einem Antisemitismus-Problem sprechen. In den verschiedensten, antikapitalistischen Narrationen (gerne auch in jenen, die sich "dritter Weg" nennen) lauert oft das antisemitische Stereotyp des „raffenden Kapitals“, das angeblich die Welt lenke, als Gegensatz zum guten und reinen „schaffenden Kapital“, also der „ehrlichen, deutschen Arbeit“. Diese Unterscheidung erfolgt analog zu jener verkürzten Kapitalismuskritik, die zwischen „guter Realwirtschaft“ und „bösem Finanzkapital“ wertet.

Der österreichische Antisemitismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft: So glaubt fast jeder zweite Österreicher, dass Juden zu viel Macht in den Finanzmärkten hätten. Mehr als jeder Zweite meint, dass Juden noch immer zu oft den Holocaust thematisieren würden. Mehr als ein Drittel der österreichischen Bevölkerung glaubt, dass Juden die US-Regierung beherrschen würden. Und ebenfalls ein Drittel meint gar, dass sie die Welt kontrollieren würden. Das ist ein fruchtbarer Boden für Antisemiten von ganz rechts und ganz links, aber auch für Islamisten. Ein Boden aus der Mitte der Gesellschaft, wohlgemerkt.

Stephan Grigat lehrt und forscht an der Universität Wien, neben dem Iran ist auch der heimische Antisemitismus im Fokus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit – zum Phänomen der neuen, antisemitischen Ausformungen sagt er: „Genau wie die europäischen Antisemiten bekämpfen islamistische Antisemiten persönliche und gesellschaftliche Widersprüche und Ambivalenzen. Sie tragen diese nicht aus, sondern projizieren sie auf Juden bzw. auf ein jüdisches Prinzip – ganz aktuell natürlich auch im jüdischen Staat. Und daraus resultiert dieser unglaubliche Hass. Das ist eigentlich ein Hass auf Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und auf Krisensituationen, denen man sich nicht stellen mag. Man weicht der eigentlichen Konfrontation mit diesem Problem aus und bekämpft stattdessen Juden und Jüdinnen.“

70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz

Wenn der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde sagt „Kinder sollen ganz normal und ohne Angst in die Schule gehen können“ – und damit nicht den Nahen Osten sondern Wien meint, dann besteht wohl Handlungsbedarf.

Denn in diesem Punkt ist Außen- und InnenministerIn wohl vorbehaltlos zuzustimmen: „Der Kampf gegen Antisemitismus lässt Null Toleranz zu. Antisemitismus ist keine Meinung. Es ist ein Verbrechen.“