Erstellt am: 19. 1. 2015 - 12:19 Uhr
Innendrin tobt es
Dass Lilith kotzt, Rufus' Hund kotzt, und das auf den ersten Seiten ist Konsequenz und kein Klischee. Coming-Of-Age-Geschichten sind ihr Spezialgebiet: Lisa Kränzler ist 31, sie malt und schreibt und erzählt seit ihrem Romandebüt "Export A" von Kindheiten und Jugend. All das, was man als Erwachsener eher vergessen hat, nimmt in Kränzlers Geschichten überhand: Der Überschwang und das regelrechte Geflutet-Werden von irritierenden Gefühlen, nach denen man handelt.
Doch Kränzlers Bücher spielen nicht auf dem Ponyhof. Sie dealt mit gänzlich konträren Dingen. Dieses Jungsein ist bitter und dunkel, ja verstörend. Mit ihrem dritten und neuen Roman "Lichtfang" verrückt Lisa Kränzler die Parameter der Normalität erneut und radikal. Diesmal ist das Drama kein vorübergehendes und keine pubertäre Stimmungsschwankung. Es ist ein existenzielles.
Boy meets Girl und das Chaos beginnt
Die schöne Lilith und der eher unscheinbare, kluge Rufus sind im letzten Schuljahr vom Gymnasium. Boy meets Girl, doch den ersten Kuss will niemand verantworten. Aber abstreiten nützt nichts. Der Keller in Rufus' Elternhaus wird zum Refugium. Lilith will mit Rufus tatsächlich Gott und die Welt besprechen, stundenlang. Und sie will Wahrhaftigkeit. So sehr, dass Rufus ihr des öfteren nicht folgen kann.
Suhrkamp
Unterschwellig beginnt ein ungleicher Kampf. Denn anders als die LeserInnen bleibt Rufus außen vor. Nicht nur, wenn Lilith sich mit anderen Männern durch die Nächte treiben lässt, ihr Flirtgesicht aufsetzt und tags darauf durch die Kellertüre spaziert, als wäre nichts gewesen. Dass Lilith und er nur einander wollen und keine Zeugen oder Mitwisser ist eine Abmachung mit doppeltem Boden: "Unter ihrem Verschwiegenheitsschwur versteckt sich, was sie nicht sagen und nicht sehen wollen".
"Lichtfang" ist ein Psychothriller, der in Lilith tobt. Ihr Selbst ist "Freigeist und Quälgeist". Von der Leere, die sie spürt, wenn sie alleine ist, und von dem unheimlichen Druck, der sie überkommt, weiß Rufus nichts. Dafür hat die 19-Jährige ihre eigenen Methoden. Einen von einem Rollkragenpullover abgeschnittenen Kragen zieht sich Lilith über ihren Oberkörper, quetscht sich zusammen. "Wenn man das Leben würgt, wird es strampeln, nach Luft schnappen, sich bemerkbar machen. Liliths Schlinge erpresst Lebendigkeitsbeweise."
Es kommt nicht oft vor, dass man alle Bücher eines Autors uneingeschränkt empfiehlt. Ausnahmen gibt es: Empfehlungen auch für "Export A" und "Nachhinein".
Lisa Kränzler spart die Diagnose aus. Die "Andersartigkeit ihrer Wahrnehmung" beschäftigt Lilith wieder und wieder. Ob sie einen körperlichen Defekt habe, ob die chemischen Prozesse in ihrem Gehirn gestört seien oder ein Tumor ihre Sinneseindrücke beeinträchtigt, fragt sie sich an einer Stelle.
Borderline zieht sich durch den Roman und macht sich breit; nicht zuletzt in der Symbolik eines Nachtfalters, der sich in Liliths Welt zur Bedrohung auswächst. Das Tier stört Lilith wiederholt beim Malen. Und zu malen bietet Wahrhaftigkeit und folgt eigenen Regeln.
Die Realitäten verschieben sich und wie das vor sich geht, ist spannend und zeugt von Kränzlers Talent. In einem Wechselspiel der Perspektiven taucht man ab in Innenwelten, die in der Außensicht keinen Platz finden. Kränzlers bildliche Beschreibungen machen Sinn. Lilith jagt nach Gefühlen, und Kompromisse sind dabei so ausgeschlossen wie ein Happy End.
Metaphern muss man allerdings mögen. Sonst ist die Gefahr groß, dass man "Lichtfang" vorschnell beiseite legt.