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Robert Zikmund

Wirtschaft und Politik

15. 1. 2015 - 12:30

Sozio-Fiction

Michel Houellebecqs "Unterwerfung" ist eine Mischung aus Wurzelbehandlung und Endorphinrausch, in erster Linie aber soziologische Fiktion.

Eines vorweg, der Klärung halber: Michel Houellebecq nun in einem Atemzug mit der aktuell brandenden und immer hysterischer werdenden Debatte um die Pariser Attentate und der bleiernen Stimmung, die sich seither über Europa legt, zu nennen, ist nicht nur unredlich, es ist auch doof.

Es ist natürlich völlig okay Houellebecq nicht zu mögen, seine Schreibe zu verachten oder generell um diese Art Bücher einen großen Bogen zu machen. Den Autor deswegen persönlich oder von mir aus auch nur wegen seines Aussehens zu diskreditieren, zeugt allerdings von einem Horizont und einer Debattenkultur, die unter jenen einer fiktiven Koalition aus Front National und Sozialistischer Linkswende liegen.

All diese Widrigkeiten, die jucken wie ein aufgekratzter Gelsentippl, möchte ich hier außen vor lassen. Erstens aus oben genannten Gründen und zweitens weil – siehe oben. Hier soll es um den Inhalt von "Unterwerfung", dem aktuellen Roman von Michel Houellebecq, gehen. Alles andere könnte man ohnehin nicht besser als Christian Schachinger im Standard ausdrücken.

„Unterwerfung“ ist in erster Linie soziologische Fiktion

Unterwerfung

Dumont

Unterwerfung von Michel Houellebecq ist in einer Übersetzung aus dem Französischen von Norma Cassau und Bernd Wilczek bei Dumont erschienen.

Paris, 2022: Francois ist Professor an der Sorbonne, einer Universität in Paris. Sein Spezialgebiet: Der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, über den er die maßgeblichsten Arbeiten Frankreichs verfasst hat. Der Bruch mit Huysman, der ihn sein Leben lang begleitet, kommt erst mit dessen später Hinwendung zur Religion, die für Francois nicht nachvollziehbar scheint. Bis er am Ende des Buches... aber dazu später.

In den frühen Zweitausendzwanziger Jahren scheint das politisch Gewohnte, das Frankreich, West- und Mitteleuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gemächlich durch eine Zeit des Wohlstandes führte, endgültig verblasst. Das bipolare System aus seriellen Mitte-links- und Mitte-rechts-Regierungen ist am Ende. Stärkste französische Partei ist der Front National unter Marine Le Pen, die Sozialisten liegen hinter der neuen politischen Kraft, einer muslimischen Partei unter dem charismatischen Parteichef Ben Abbes, nur mehr auf Platz 3. Ganz abgeschlagen ist die konservative UMP, die Partei von Sarkozy.

Während ein Drittel der autochthonen Gesellschaft, unterstützt durch Front National und deren radikalen Flügel, den Identitären, der neuen Kraft mit offener Ablehnung gegenübersteht, unterstützt die Mehrheit der anderen Parteien (und der Bevölkerung) den muslimischen Kandidaten gegen Le Pen. Und tatsächlich bringt die Muslim-Bruderschaft eine neue Politik ins Land. Während man akribisch darauf achtet, weder Linke noch Liberale zu vergraulen und auf „Rundum-Befriedung“ setzt, spielt man programmatisch neue Strategien (so besucht Ben Abbes regelmäßig den Vatikan). Wo die vermeintlich neoliberale Revolution der 80er Jahre nur kalten Wettbewerb lässt, bieten sie soziale Wärme und Strukturen. Statt der Wirtschaft stehen Familie und soziale Werte im Fokus, Ben Abbes beruft sich dabei auf eine Art „dritten Weg“, der durchaus antikapitalistisch ist.

Im Prinzip kassiert die Partei dabei jene, die von der Jeder-gegen-jeden-Leistungsgesellschaft zunehmend frustriert sind und dabei auch gleich den gesamten liberalen Individualismus ablehnen. Auf der anderen Seite verachten sie aber auch die '68 geprägten Eliten der Linken – die sich in einem Rückzugsgefecht in die letzten verbliebenen Elfenbeintürme flüchten: die Medien.

Erstaunlich schnell ist die demokratische Allianz aus Sozialisten, Konservativen und Liberalen bereit, der muslimischen Partei jene Themen zu überlassen, die sie in ihren Fokus stellen – und das ist vor allem die Bildung. Während islamische Universitäten wie die Sorbonne mit unbegrenzten Mitteln aus Ländern wie Saudi Arabien rechnen können, darben die verbliebenen laizistischen Bildungseinrichtungen dahin. Die soziale Wärme geht etwa auf Kosten der Gleichberechtigung, den Frauen wird ein klassisches Familienbild vorgeschrieben und sie werden vom Arbeitsmarkt zunehmend verdrängt. Die Familie als Modell erstarkt und die offizielle Arbeitslosigkeit sinkt.

Dazwischen steht Francois, den Houellebecq in seiner Leidenschaft und atemberaubenden Schärfe Dinge sagen lässt wie: „Mein Körper ist ein Quell diverser schmerzhafter Leiden.“ Aus seiner sezierenden und kompromisslosen Perspektive wird „Unterwerfung“ erzählt. Als er dann – ganz am Ende des Buches – vor der Entscheidung der Konversion steht (auch um wieder als Professor an der Sorbonne arbeiten zu dürfen, aber nicht nur deshalb), meint Francois für sich die Vorteile des neuen Systems zu erkennen. Auch wenn er zur Kenntnis nehmen muss, dass die kurzen Röcke aus dem Pariser Straßenbild verschwinden. Und dort schließt sich auch der Kreis zu Joris-Karl Huysman.

"Unterwerfung" ist eine Mischung aus Wurzelbehandlung und Endorphinrausch, es ist Satire, Fiktion und möglicherweise auch provozierend. Es ist aber jedenfalls ein großes und lesenswertes Buch und erscheint am 16. Jänner auf Deutsch.