Erstellt am: 15. 1. 2015 - 11:03 Uhr
Ein Dschihadist ist kein Tänzer
Jeder kennt Timbuktu. Jeder weiß, dass Timbuktu eine alte Stadt ist, mit Manuskripten, Mausoleen und Moscheen. Die Stadt ist Symbol und Mythos, und leicht vergisst man, dass dort reale Menschen leben. In Timbuktu geboren zu sein, bedeutet am Rand auf die Welt zu kommen, an einem Ort, den es fast nicht gibt. Im Jahr 2012 war Timbuktu von islamistischen Extremisten besetzt. Im Januar 2013 wurde die Stadt befreit.
Der Besetzung Nordmalis durch Islamisten war eine Besetzung durch bewaffnete Touareg vorangegangen, die in Gao den Staat Azawad ausgerufen hatten (ursprünglich gemeinsam mit den Islamisten). Nach der Befreiung von Nordmali (und der Wiedereingliederung der separatistischen Region) mithilfe der französischen Armee (wofür Präsident Hollande in Timbuktu unter anderem ein Kamel geschenkt bekam) wurden Vorwürfe laut, dass Menschenrechtsverletzungen nicht nur von den islamistischen Besetzern, sondern auch von Touareg-Rebellen und Vertretern der malischen Armee begangen worden waren. Zur komplexen Lage im Norden von Mali ein Artikel in Le Monde Diplomatique vom 10.1.2014.
In der Zeit der Besetzung gab es Nachrichten über die Zerstörung von Mausoleen, Moscheen, der Bibliothek, in der Manuskripte aus dem 16. und 17. Jahrhundert, Abschriften des Koran aus dem 12. und 13. Jahrhundert aufbewahrt wurden. Ein Großteil davon, auch darüber wurde nach der Befreiung berichtet, konnte heimlich nach Bamako geschafft werden. Kaum hingegen gab es Nachrichten von Menschen, von Kleidungsvorschriften, Schulschließungen, dem Verbot, Pétanque (eine Art Boccia) zu spielen.
Filmladen Verleih
Der Spielfilm "Timbuktu" beginnt mit einer unfairen Jagd: eine Gruppe vermummter Gestalten mit Kalaschnikows im Anschlag brettert auf einem Pick-up durch die Wüste. Eine Gazelle rennt um ihr Leben. Man hört den Befehl "Erschießt sie nicht. Macht sie nur müde". So wie die Gazelle treiben die Besetzer auch die Bevölkerung von Timbuktu mit absurden Ge- und Verboten vor sich her.
Im realen Timbuktu haben sich die Männer der Weisung, einen Bart zu tragen, widersetzt, indem sie ihren Turban enger gebunden haben, so dass das rasierte Gesicht darunter nicht zu sehen war. Ähnlich im Film: Auch hier setzt sich die Bevölkerung der Gängelung durch die Dschihadisten widerborstig entgegen. Spitzbübisch, trotzig und in schmerzvollem Aufbäumen. Da spielen Jugendliche Fußball ohne Ball. Da singt nachts eine junge Frau heimlich. Später wird sie mit 20 Peitschenhieben bestraft. "Wenn Sie den Menschen das Singen verbieten, werden sie genau dann die allerschönste Musik kreieren. Ein Mensch, der nicht singt, singt gezwungenermaßen in seinem Kopf", sagt Abderrahmane Sissako bei einem Gespräch während den Französischen Filmtage in Tübingen.
Filmladen Verleih
Als Sissako begonnen hat, an seinem Film zu arbeiten, waren "Islamischer Staat" und "Boko Haram" noch weitgehend unbekannt, die Methoden der Kämpfer in den täglichen Nachrichten weniger präsent.
"Am 29. Juli 2012 fand in Aguelhok, einer kleinen Stadt im nördlichen Mali, ein unsägliches Verbrechen statt, das von den Medien und somit dem Rest der Welt, einfach ignoriert wurde. Ein Paar in den Dreißigern, das mit zwei Kindern gesegnet war, wurde zu Tode gesteinigt.
Ihr Verbrechen: sie waren nicht verheiratet", schreibt Abderrahmane Sissako in einer Stellungnahme zu seinem Spielfilm "Timbuktu". "Die Szenen ihres Sterbens, die von ihren Folterern online gepostet wurden, sind grauenvoll. Die Frau stirbt durch den ersten Stein, der sie trifft. Dem Mann entfährt ein heiserer Schrei, dann herrscht Stille. Was ich niederschreibe, ist unerträglich, ich weiß. Ich versuche keineswegs, über Schockgefühle einen Film zu promoten. Ich muss in der Hoffnung davon erzählen, dass nie wieder ein Kind später erfahren muss, dass seine Eltern sterben mussten, weil sie sich liebten."
Filmladen Verleih
Die Aufzeichnung einer Videobotschaft
Im Kampf der islamistischen Extremisten ist das Video selbst zur Waffe geworden. Es überhöht die Demütigung der Opfer auf unverschämte Weise. Man foltert und filmt sie dabei. Und indem diese Bilder über das Internet lanciert werden, werden der Schmerz und das Leid der Menschen selbst zur Munition.
Eine der tragikomischsten Szenen des Films handelt von der Aufzeichnung einer Videobotschaft, bei der es nicht gelingen will, die Botschaft glaubwürdig in den Kasten zu bekommen. Ein junger Mann, ein ehemaliger Rapper, soll bekunden, dass er der Musik abgeschworen hat. "Bist du überzeugt von dem, was du sagst?" schmettert ihn der Kameramann an und macht ihm vor, wie man eine Botschaft mit Überzeugung auf Band bringt. Ein weiterer Mann im Raum hält einen Schweinwerfer, der ständig flackert.
Zwar basiert "Timbuktu" auf Recherchen, die Abderrahmane Sissako nach der Belagerung in Timbuktu gemacht hat, doch erlauben ihm die Mittel des Spielfilms einen umfassenderen Blick auf die Geschehnisse, einen Blick, der die Menschen nicht in Opfer und Täter teilt, sondern nahelegt, dass in jedem Menschen ein Täterpotential steckt und in jedem Leben beides vorkommen kann. In Sissakos Filmsprache verschmelzen Realität und Fiktion zu einer poetischen Metaphorik. Die symbolhafte Bedeutung der Stadt tritt in den Hintergrund. Der Film "Timbuktu" erzählt von den Menschen, den Belagerern und den Belagerten.
Filmladen Verleih
Eine Verrückte namens Zabou
Inspiriert von einer realen Person, gibt es in "Timbuktu" die schrille Frauenerscheinung Zabou (gespielt von der großartigen Choreographin und Tänzerin Kelly Noël, die im Juni bei den Wiener Festwochen zu erleben sein wird). Sie verschleiert ihr Gesicht nicht und zieht eine lange schwarze Schleppe hinter sich her. Sie raucht und singt laut. Zabou darf alles. Und da alle Kunst und Kultur brachial unterdrückt wird, wird sie, die Verrückte mit ihren Wahnvorstellungen, ihrem Gockelhahn und ihren bunten Haaren zum Ventil aller. In einer traumartigen Szene sieht man einen der Männer auf ihrer Terrasse heimlich tanzen. Das Gewehr hat er an die Wand gelehnt, den Turban abgenommen, im Hintergrund hört man den dumpfen Aufprall von Steinen. "Ein Djihadist ist kein Tänzer," sagt Abderrahmane Sissako, "aber auch kein Monster. Monströs sind die Taten der Djihadisten. Man kann einem Menschen nicht seine ganze Menschlichkeit absprechen. Dass ein Mensch einer bestimmten Sache folgt, bedeutet nicht, dass er gänzlich unmenschlich ist. Etwas ist in seinem Leben passiert, das dazu geführt hat. Oder es ist sehr wenig passiert, auch das ist möglich. Ich denke, es ist sehr, sehr wichtig, dass man die Dschihadisten als Menschen betrachtet, die uns ähnlich sind. Als Menschen, die auch Reue empfinden können."
Eine Kuh namens GPS
Filmladen Verleih
"Einen Film zu machen bedeutet, mit anderen zu kommunizieren. Ich benutze alle mir zur Verfügung stehenden Mittel – die Musik, den Ton, die Kadrierung natürlich und die Montage, also den Rhythmus –, um zu erzählen, Emotionen zu erzeugen und einzuladen. Es gibt Filme, die laden auf eine Reise ein, selbst wenn es eine schwierige Reise ist. Und es gibt Filme, die dem Publikum eine Reise aufzwingen, das ist der Unterschied. Ich möchte kein Aufsehen erregen, wenn ich Schmerz oder schwierige Dinge zeige. Man muss Distanz kreieren, sonst erzwingt man eine Botschaft." Wie sehr Sissako auch dem Humor verpflichtet ist, zeigt sich im Kern der Geschichte, dessen Dreh- und Angelpunkt eine Kuh namens GPS ist. Das Schicksal der Kuh ist richtungsweisend für die dramatische Zuspitzung von "Timbuktu". GPS ist die Lieblingskuh von Khidane, einem Nomaden, der mit seiner Frau und seiner Tochter außerhalb der Stadt in einem Zelt in der Wüste lebt.
Filmladen Verleih
Wie die Familie abends auf einem Teppich unter dem Vorzelt liegt und Khidane Gitarre spielt, wie die Tochter ihrem Vater über die Sanddünen nachläuft, um ihn zu umarmen, wie der Wind aus den Sandkörnern eine Landschaft macht, die stetig im Fluss ist, all das ist berauschend harmonisch.
Es gibt keinen Film von Sissako, der nicht in der Wüste spielt. Bereits seinen allerersten Film, 1988, hat Sissako dort gedreht, "Le Jeu", in der Karakum in Turkmenistan, fernab von Mali. "Für mich ist es einfach ein Ort, den ich filme," sagt Sissako. "Im Fall von 'Timbuktu' wusste ich, dass die Schönheit und auch Stärke des Ortes mit dem, was dort passiert, kontrastieren wird, er wurde also fast zu einem dramaturgischen Element. Aber ich mache ihn nicht schöner, als er ist."
Der unabhängige Lebensraum des Kuhbesitzers Khidane gerät während der Besetzung Timbuktus unter Druck. Ihm gehen die Werte verloren und er wird als Opfer selbst zum Täter. Seine Frau Satima warnt und schützt ihn, ohne viele Worte zu verlieren.
Abderrahmane Sissako: "Die Frau von Khidane ist stark. Sie bleibt in ihrer Seelenruhe, in einer Stärke, die den Menschen, die dort leben, eigen ist. Diese Schauspielerin lasse ich nicht wie eine Pariserin oder eine Berlinerin spielen. Man muss auch in Bezug auf die Art der Menschen genau sein. Es ist wichtig, sich auf Dinge zu beschränken, die simpel, wahr und stark sind."
Der Regisseur Abderrahmane Sissako
Abderrahmane Sissako ist in Mauretanien geboren, in Mali aufgewachsen und hat in der ehemaligen Sowjetunion Film studiert - genauso wie der aus Niger stammende Souleyman Cissé und der Senegalese Ousmane Sembène, beide ebenfalls Teil der kleinen Gruppe international bekannter afrikanischer Filmregisseure. Von 1983 bis 1991 war Sissako Student an der ältesten Filmschule der Welt, am Gerassimow-Institut für Kinematographie in Moskau. Aus pragmatischen Gründen, wie er in einem Interview gesagt hat. Er sei wie Tausende andere afrikanische Studenten in die Sowjetunion gegangen, weil es einfach möglich gewesen sei. Danach hat er lange in Frankreich gelebt.
Seit einigen Jahren lebt er wieder in Mauretanien, wo "Timbuktu" auch gedreht wurde, da die Situation im Norden von Mali zu unsicher war. "Wenn man einen Ort entdeckt, beeinflusst einen dieser Ort. Würde ich nach Wien kommen, zehn Tage bleiben, die Theater entdecken und die Musik hören, würde mich das beeinflussen. Aber vielleicht einfach, um ein besserer Koch zu werden. Jede Reise, jede Begegnung beeinflusst uns. Ich war in Moskau, zur Zeit der Sowjetunion, aber ich denke, es gibt etwas Wichtigeres, über das man seltener spricht. Nämlich: Was war vor der Beeinflussung da?"
Kurze Filmographie
trigon-film
Sissakos Filmographie ist nicht lang – er warte einfach, bis die Dinge zu ihm kommen - eine Handvoll Filme, die vom Gehen und Bleiben, von Würde und Gerechtigkeit erzählen. "Heremakono – En attendant le bonheur" aus dem Jahr 2002 handelt von der großen Sehnsucht nach Europa. Ein junger Mann wartet in einer Küstenstadt Mauretaniens darauf, wegzukommen. Er vertreibt sich das Warten mit Herumschlendern und ist sich irgendwann nicht mehr sicher, wo und wie es zu finden sein könnte, das Glück.
Am allerstärksten vermischt Sissako Realität und Fiktion in seinem Film "Bamako" aus dem Jahr 2006, den er im Innenhof des Hauses seines Vaters in Malis Hauptstadt gedreht hat. "Court" bedeutet auf Französisch sowohl "Hof" als auch "Gericht". Mit realen Advokaten und Richtern, mit Arbeitslosen, Tagelöhnern und jungen Müttern hat er einen Ankläger-Prozess gegen die Weltbank geführt. In einer Szene sieht man den französischen Verteidigungsrichter in einer Verhandlungspause. Er steht auf der Straße vor dem Hof. Neben ihm ein Schaf, das sich plötzlich bewegt, er zuckt zusammen. Ein Franzose, der sich vor einem Schaf fürchtet - selten ist die Alarmbereitschaft der Weißen Afrika gegenüber derart subtil humoristisch und feinfühlig dargestellt worden.
Es ist nicht einfach, Sissakos Filme zu beschreiben. Jedes Wort, das die Schönheit, die Klarheit und Wahrhaftigkeit dieser Filme beschreibt, kommt einem plump vor.
Dieses Kino ist nicht für die Sprache gemacht.
"Ich war immer beeindruckt, berührt, bewegt von gewissen Dingen. Ein nicht einmal dreijähriger Bub, der allein durch die Straßen geht und weint, der sein Haus verlässt, um wegzugehen, mit seinem Schluchzen und seinen Tränen – das sind Dinge, die mich erschüttern. Tausende solcher Dinge, die in meiner Umgebung passiert sind. Und natürlich auch die Schönheit der Dinge, es gibt nicht nur Schwierigkeiten – all das hat mich geformt, um ein Bilder-Erzähler zu werden."