Erstellt am: 10. 1. 2015 - 14:33 Uhr
Je suis Charlie
"Heute sind wir alle Amerikaner", sagte Peter Struck, der Fraktionsvorsitzende der SPD, einen Tag nach den Anschlägen in New York 2001. Der Satz traf einen Nerv. Er verlieh starken, kollektiven Gefühlen Ausdruck. Weltweit hatten damals Menschen das Bedürfnis, ihre Fassungslosigkeit zu überwinden. Sie wollten angesichts des monströsen Angriffs auf das Leben und Sprechen etwas sagen, das sich der Verkultung des Todes und seiner Bilder widersetzte. Auch und gerade in Ländern wie Deutschland oder Österreich, in denen eine oft kulturalistisch getönte, reflexhaft verkürzte Kritik am ungehobelten Weltsheriff ansonsten Volkssport ist. Wenn auch solche routinierten Amerikakritiker in den Tagen nach 9-11 zu Amerikanern wurden, dann sollte das nicht nur eine Solidarität mit den Opfern und ihren Nächsten demonstrieren, sondern auch auf ein Amerika der Menschen hinweisen. Dieses Amerika ist bis heute nicht durch jenen Katalog der Verfehlungen der Supermacht bestimmt, die im jedes Jahr dicker werdenden Schwarzbuch Amerika aufgelistet werden.
Innerhalb weniger Stunden passierte nun Ähnliches nach den Morden in Paris. "Je suis Charlie" hieß es nun. Über Sinn und Bedeutung dieses Bekenntnisses wurde schon viel gesagt, und es tauchen auch schon Stimmen auf, die sich von der Solidaritätsgeste distanzieren. Manche der Einwände führen dazu, dass die Morde verharmlost werden. Das ist obszön. Ein Beispiel: Wenn ein hundertfach geretweetetes Posting in einem Satz davon schreibt, dass Cartoons genauso awful sind wie das Abschlachten von Menschen, dann betreibt es eine infame, relativistische Logik. Mit solcher vermeintlich hyperkritischer Rhetorik wird das Gegenteil von Kritik, nämlich nicht Unterscheidung, sondern Nivellierung betrieben. Und die beispiellosen Morde werden damit ein Stück weit legitimiert.
Eine – natürlich immer mögliche – Kritik am awful Inhalt eines Cartoons ist in diesem Zusammenhang eine Themenverfehlung. Ganz zu schweigen davon, dass diese ja auch ständig stattfindet. Der unabschließbare Streit um die Zumutbarkeit und die Deutung von Bildern und Texten ist nicht nur geradezu konstitutiv für eine demokratische Medienöffentlichkeit, er wird auch ständig geführt und nicht tabuisiert. Schließlich kennen wir alle die periodisch wiederaufflammenden Diskussionen zu Themen wie "Was darf Satire?" bzw. "Geht es hier noch um Satire oder ist das schon bewusstes Zündeln?"
Warum verbreitete sich "Je suis Charlie" überhaupt so rasch, warum erscheint er so vielen als die beste Antwort auf den Terror? Ich glaube, es ist gerade die identitätspolitische Unbestimmtheit, das integrative Angebot, das den Satz so attraktiv macht. Charlie ist nicht nur der liberale, weiße, heteronormative Houellebecq-Fan. Charlie kann und soll auch eine Muslimin sein, die damit sagt: "Not in my name!"
"Je suis Charlie" meint daher gerade nicht, dass man sich vorbehaltlos oder auch mit Vorbehalten mit jeder Karikatur identifiziert. Der Satz erschöpft sich auch nicht darin, den Spielraum der Satire oder die Pressefreiheit im Allgemeinen zu verteidigen. Selbst wenn das Satiremagazin aus einer Anhäufung von als rassistisch oder problematisch geltender Karikaturen bestünde, und selbst wenn man zweifelsfrei feststellen könnte, dass auch die Solidaritätskundgebungen nicht nur mit hehren Motiven, sondern auch mit angstlustgetriebener Wichtigmacherei zu tun haben, änderte das nichts an der öffentlichkeitswirksamen Richtigkeit der Formulierung. Denn dieser Anschlag gilt tatsächlich uns allen, weil jeder von uns Charlie sein könnte. Man muss dazu nicht zeichnen können, nicht politisch zündeln und niemanden provozieren wollen. Charlie ist jeder, weil jeder von gewaltbereiten Fanatikern, die ihre eigene Empfindung zum ultimativen, quasi göttlichen Maßstab ihrer Weltsicht machen, zum (Tod-)Feind erklärt werden kann: Ich bin beleidigt, also handle (und töte) ich. Ich bin gekränkt, und daran ist jemand schuld. Die mörderische und maßlose islamistische Ideologie rechtfertigt den sich gegen jede Selbstrelativierung verpuppenden Opfernarzissmus derer, die im Anderen das sehen, was sie sehen wollen. In Nigeria werden Volksschulen niedergebrannt, weil man dort nicht nur Buben, sondern auch Mädchen das Lesen lehrt. Auch diese Mädchen sind Charlie.
Der zweite, mit dem Anschlag auf die Redaktion zusammenhängende Anschlag auf ein koscheres Lebensmittelgeschäft richtete sich gegen Juden, weil sie Juden sind. Auch Juden sind Charlie. Die Kämpfe minoritärer und diskriminierter Gruppen um Anerkennung und Achtung und Selbstachtung waren und sind berechtigt. Doch der verständliche Wunsch nach Autonomie und Anerkennung des Selbst hat ein Kippmoment in sich. Jenseits dessen regiert die starke Schwäche, der Joker der Selbstviktimisierung. Diese Karte schlägt immer öfter alle. Doch weil sich jemand als Opfer fühlt und dies glaubhaft machen kann, hat er noch lange nicht Recht.
In Israel werden seit einigen Jahren sogenannte Anstandsbrillen an ultraorthodoxe Juden verkauft. Diese lassen Objekte ab der Distanz von fünf Metern verschwimmen. Auf diese Weise können sich Menschen mit rigiden Keuschheitsvorstellungen durch Jerusalem bewegen, ohne in ihren Augen unanständig bekleidete Frauen ansehen zu müssen. So wird die Zumutung namens Welt für Weltbilder voller Zumutungen handhabbar. Sich selbst austricksen, anstatt andere mit 1.000 Stockhieben wie jetzt in Saudi-Arabien maßregeln: Auch das wäre eine gesellschaftliche Utopie.
Gegen die fatale narzisstische Tendenz, das eigene Empfinden, die gefühlte Beleidigung zu verabsolutieren und Begriffe wie Ehre oder Würde zu überlasten, sollte man daher daran erinnern, dass Menschen immer auch etwas Anderes sind als das, womit sie sich identifizieren, oder als das sie von anderen identifiziert werden. Auch Muslime und die, die für sie sprechen. Je selbstverständlicher das Bewusstsein unserer immer schon gespaltenen, halbleeren (oder halbvollen) Identität verankert ist, desto eher wird man auch nach Freitagsgebeten hören: "Je suis Charlie."