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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

10. 1. 2015 - 17:55

Sehen mit Schmerzen

Mit dem meisterhaften Psychothriller "Ich seh Ich Seh" liefert das Regieduo Veronika Franz und Severin Fiala den ersten Pflichtfilm des heurigen Jahres.

Der Anfang sieht noch nach kindlicher Idylle aus. Zwei Buben (Lukas und Elias Schwarz) spielen in raschelnden Maisfeldern Verstecken, laufen durch Wälder, erforschen die sommerliche Natur. Gleichzeitig liegt eine Andeutung von Unheimlichkeit in der flirrenden Luft.

In einen einsam gelegenen Designerhaus in der Nähe wartet die Mutter (Susanne Wuest). Mit einbandagiertem Gesicht starrt sie durch die Jalousien, beobachtet abwechselnd ihre Zwillingssöhne und kontrolliert sich selbst im Spiegel.

Bald verschärft sich der Tonfall in der kühl eingerichteten Villa. Die beiden Kinder erkennen in der schroffen, abweisenden Frau, die sich gänzlich ins abgedunkelte Schlafzimmer zurückzieht, ihre geliebte Mama nicht mehr. Kleine harmlose Momente der Auseinandersetzung eskalieren, Nerven liegen blank, offene Aggression bricht irgendwann aus.

Ich seh Ich seh

Stadtkino

"Ich seh Ich seh" ist ein Film, der seinen Titel nicht treffender gewählt haben könnte. Es geht nicht nur um Blicke, die auf dringliche Weise zwischen den drei Hauptfiguren ausgetauscht werden.

Das meisterhaft inszenierte und glänzend besetzte Gänsehaut-Kammerspiel aus Österreich erweist sich, in der Verpackung eines beklemmenden Psychothrillers, auch als grundlegende Reflexion über den Akt des Sehens, über unterschiedliche Perspektiven auf die Realität.

Das Spielfilmdebüt des Regieduos Veronika Franz und Severin Fiala, die erstmals mit dem Dokustreifen "Kern" auf sich aufmerksam machten, wird seinem Titel aber auch noch auf eine ganz andere Weise gerecht. "Ich seh Ich seh" ist ein Werk, das ganz explizit auf Stimmung setzt, auf unheilvolle Atmosphäre, auf die Kraft der schleichenden Bilder.

Ich seh Ich seh

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Genau dieser Ansatz war lange Zeit mehr als verpönt im heimischen Kino. Österreichische Filmemacher stürzten sich zuerst auf die Geschichte, den Inhalt, im schlimmsten Fall auf die Botschaft, die visuelle (und auch soundtechnische) Umsetzung rangierten stets an hinterer Stelle.

Die Oberlehrer an den Pulten der einschlägigen Ausbildungsstellen predigten wahlweise Wahrhaftigkeit, Realitätsnähe, psychologische Fundierung der Figuren oder Storys aus dem Alltagsleben. Das pure, berauschende, herrlich manipulative und sich selbst feiernde Kino wurde zum Feind erklärt.

Seit geraumer Zeit gibt es glücklicherweise Gegenstatements zu dieser Doktrin der filmischen Sprödheit und (Seh-)Lustverweigerung. Der österreichische Genrefilm sendet heftige Lebenszeichen, wagt sich mit Regisseuren aus unterschiedlichen Generationen, von Andreas Prochaska ("In drei Tagen bist du tot 2") bis Marvin Kren ("Blutgletscher") sogar in Zonen vor, wo das Kino ganz bei sich ist: dort, wo es zur beängstigenden Achterbahnfahrt wird, zum Vergnügungspark des Grauens.

Ich seh Ich seh

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Veronika Franz und Severin Fiala vertrauen, wie die besten Genrefilmer, auf den suggestiven Sog der Bilder (die sich dem Ausnahmekameramann Martin Gschlacht verdanken), gehen allerdings noch einen anderen Weg, abseits von perfekten Funktionsfilmen. Ihr Pfad führt nicht nur weg von dialoglastigen Familienstudien, sondern ignoriert auch berechenbare Gruselklischees und Schock-Stereotypen. "Ich seh Ich seh" ist ein Film der Verwandlungen, mutiert vom hypnotischen Psychodrama zum heftigen Horrorthriller, von der Arthouse-Ambition zum schön schrecklichen Ekelepos.

Dieses bestmögliche Sitzen zwischen den Stühlen, das einerseits an hochmodernes Hybridkino wie "Under The Skin" erinnert und anderseits an die siebziger Jahre anknüpft, wo die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz wunderbar porös wirkten, hat mit der Sozialisation und Offenheit der Regisseure zu tun.

Ihnen geht es schlicht um ein Kino der körperlichen Erschütterungen, versichern Franz und Fiala glaubwürdig im FM4-Interview, um einen Film, der einen mit Spannung fesselt, aber auch tief unter die Haut geht. Ich kann dabei nur ganz heftig nicken und kundtun: Der erste Pflichtfilm des heurigen Jahres kommt aus Österreich und heißt "Ich seh Ich seh".

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Von falschen Schubladen, echten Schaben und ohnmächtigen Zusehern

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