Erstellt am: 10. 1. 2015 - 13:18 Uhr
Rostflecken im Schnee
Ein weißer Honda mit Rostflecken kämpft sich durch eine weiße Schneelandschaft den Berg hinauf. Nur die Rostflecken blitzen manchmal auf. Die Mutter bringt den ahnungslosen Ich-Erzähler in sein neues Zuhause. Zum Internat im Schloss. Die Schüler sind in verschiedenen Gebäuden am Gelände untergebracht, verschiendenen Gruppen - den "Familien" - zugeordnet. Der Ich-Erzähler muss sich zurecht finden, sich an die Umgangsformen mit den anderen in seiner "Familie" gewöhnen. Immer auf der Hut sein, denn sonst bekommt er eine vom "Familienvater" gewischt.
Eigentlich grinse ich nicht, aber ich würde gerne grinsen und auch eine Grimasse schneiden. Grinsen, Grimassen schneiden und Grimassen wischen liegt sehr nah beinander.
Bei seinen Erkundungen des Geländes trifft er im Wald auf Kai, auch ein Außenseiter. Kai zeigt ihm den Wald und Kai spielt in der Band, in der er Gitarre spielen wird. Mit ihm gräbt er im Wald ein Loch. Kai erzählt ihm, dass es wichtig sei, den anderen zu wissen. Auch wenn der Ich-Erzähler nicht wirklich versteht, was Kai damit meint, gibt er sich Mühe. Sie kommen einander näher, ihre Freundschaft wächst und gibt ihnen Halt zwischen den kalten Mauern des Schlosses. Genau wie ihr gemeinsames Projekt: das Loch im Wald.
Ich notiere. Wie der Spaten sich eingräbt, wie die feuchte Erde sich verschiebt. Weil ich das sehe, wundere mich aber und verstehe weder, was ich notiert hab, noch, was ich gesehen habe.
Matthes & Seitz
"Kai - eine Internatsgeschichte", erschienen bei Matthes und Seitz, Berlin.
Die Notizen wirken seltsam distanziert, als wäre er nicht Teil davon. Er observiert und bewertet nicht. Er hat den Initiationsritus, einen Kübel Wasser ins Bett, in der Nacht selbst erlebt und auch das Spiel "Sklave und Herrscher" gesehen, legt aber nichts offen. Die Zwischenräume werden zur Projektionsfläche dessen, was untergründig mitschwingt. Manchmal flüchten er und Kai in eine Kneipe ins Dorf hinunter und spülen mit einer "Kalten Muschi" das Erlebte weg. Kai wird zu seinem Zentrum bis Kai eines Tages verschwindet.
In kurzen Blitzlichtern und ganz einfacher Sprache schildert der in Palästina geborene Maruan Paschen vom Leben im Internat. Mit 2 Jahren ist er nach Deutschland gekommen und hat auch in einem Internat mit reformpädagogischen Ansätzen (nicht in der berühmt berüchtigten Odenwaldschule) seine Erfahrungen gemacht. Nur ein Jahr, dann ist er rausgeflogen. Eine Kochlehre folgte und dann ein Literaturstudium in der Schweiz. Einige Literaturpreise hat er ebenfalls schon gewonnen.
"Kai" ist sein Debutroman. Auf rund 100 Seiten zeichnet Paschen ein unheimliches Bild einer hermetisch abgeschlossenen Erziehungsanstalt ohne sich auf stereotype Verhaltensweisen festzulegen. Es gibt Initiationsriten wie überall, sadistische Adern bei Lehrern und Mitschülern - aber fast nichts wird konkret. Maruan Paschen lässt bewusst Lücken um den LeserInnen Platz zu geben, ihre eigenen Überleitungen zu schaffen. Ein Buch, das jeder anders lesen wird. Poetisch und düster.