Erstellt am: 7. 1. 2015 - 16:00 Uhr
Schrecken des Eises und der Finsternis
Katja Kettu ist eine der erfolgreichsten finnischen Autorinnen der jüngeren Gegenwart, zudem ist sie in einer Punkband tätig. Eine vernachlässigbare Punkband, die den Begriff "Punk" noch recht werktreu im Sinne von Krach, Radau und Dilettantismus auslegt. Eine ein bisschen schäbige Analogie kann man hier sicher in der Direktheit, der Aggression und der Energie des Rohen sehen, die Kettu in ihrem Roman "Wildauge" hoch eindrucksvoll bemüht.
Gleichzeitig ist das Buch "Wildauge", das wochenlang in den finnischen Bestsellerlisten auf Platz 1 stationiert war, kunstvoll verschraubt, verstiegen, barock ausgekleidet und betont unmodern. "Wildauge" erzählt von einer zum Scheitern verurteilten Liebe vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung Finnlands während des Zweiten Weltkrieges. Finnland und Deutschland waren im Zweiten Weltkrieg zunächst Verbündete gegen die Sowjetunion, im September 1944 unterzeichnete Finnland ein Waffenstillstandsabkommen mit der Sowjetunion und sollte die Verdrängung der deutschen Armee bewegen.
Schwieriges Terrain, brenzliges Setting, in "Wildauge" verliebt sich eine finnische Hebamme in einen deutschen Soldaten: "Und aus irgendeinem Winkel in mir stieg ein Gebet auf, das stärker war als irgendeines jemals zuvor. Ich betrachtete die Lücke, die du in dem Abend hinterlassen hattest. Ich drückte die Stirn gegen das kühle Glas und flehte: Mein Gott, ich will diesen Mann. Wenn ich den kriege, mein Gott, verlange ich keinen anderen."
Galiani
Die namenlose Hebamme des nordfinnischen Ortes Petsamo ist dem SS-Offizier Johannes Angelhurst vom ersten Augenblick an verfallen. Wegen ihres stechenden Blickes nennt man sie Wildauge, aufgrund ihres medizinischen Talents und ihres Wissens um intime Geheimnisse des Dorfes ist sie den meisten Bewohnern unheimlich, man hält sie für seltsam, etwas verrückt. Nicht so Johannes, der sich ebenfalls sofort zu ihr hingezogen fühlt.
Er ist Fotograf, tritt zunächst weltgewandt, wohlerzogen, feingeistig auf. Mehr und mehr werden seine Tendenzen zur Gewalttätigkeit und seine Fähigkeit zur Brutalität deutlich. Immer stärker wird er zudem von seiner Drogensucht in den Abgrund gesogen. Dennoch: Wildauge ist beeindruckt von diesem stattlichen Mann, aus dem auch eine sensible Hintersinnigkeit zu funkeln scheint. Es entspinnt sich eine Beziehung, die zwischen hoher Zärtlichkeit und roher Triebbefriedigung – die Katja Kettu auch ausdrücklich beschreibt – torkelt. Von "Schwänzen" und "Mösen" ist die Rede, weniger von Blumenwiese.
Auch als Johannes in ein Kriegsgefangenlager abkommandiert wird, folgt ihm Wildauge, arbeitet als Krankenschwester, um ihm nah zu sein. Sie wird zunächst Mitwisserin und Dulderin, später auch Mitverantwortliche großer Grausamkeiten. Die Stärke von "Wildauge" ist die bildhafte Sprache, die oft mit Motiven von Körperlichkeit, Fleisch, Dampf und Ekel operiert. "Die ganze Woche hatte der Sturm gebrüllt, und in den Latrinen stank es nach Übelkeit und Eiter."
"Wildauge" ist hart und kalt. Das Elend des Krieges, das Verschwimmen der Ebenen zwischen Gut und Böse, eine Liebe an der Grenze zur kompletten Hörigkeit. In üppigen und archaischen Bildern schildert Katja Kettu eine hässliche, kaputte Welt. Ihre Beschreibungen von Verzweiflung, Verfall, Moder und Natur sind ausladend und vibrieren vor Leben.
"Mochten die Maultiere und Hengstfohlen, die kastriert werden sollen, doch krepieren. Mochten sich die Kirgisen doch in den Schlaf weinen, mochte man sie doch mit Brühfutter und Fliegenlarven füttern. Wir würden das wonnigste Dampfbad der Welt bereiten, gewürzt mit Sumpfporst, in dem die Seele zur Ruhe kommt und noch Stunden danach einen bläulichen Harzschlaf schlummert."
Galiani
"Wildauge" ist ein großartiges, widerliches, im Wortsinne überwältigendes Buch, deprimierend, frustrierend. Bisweilen fühlt man sich von der gestelzten Poetik und dem Pathos erschlagen, zuvorderst erzeugt der Sprachreichtum jedoch ein wohliges Gefühl von Beklemmung und Verwirrung.
Ausdrücklich sei hier die Übersetzungsarbeit von Angela Plöger erwähnt, ebenso wie das von ihr verfasste Nachwort, das die angesichts des opulenten Tonfalls Katja Kettus und deren Neigung zu Wortschöpfungen erwachsenden Schwierigkeiten eines solchen Unterfangens darlegt und den historischen Kontext der Erzählung erläutert.
"Wildauge" kennt dabei kaum Gnade mit seinen Figuren, will nicht durch das Hervorstreichen eines irgendgearteten "menschlichen Antlitzes" Gräueltaten legitimieren, generiert doch ein moralisches Dilemma – nicht nur für seine Charaktere. Man ertappt sich, wie man immerhin für die Liebe dieses Liebespärchen, das einem nicht sympathisch sein kann, Wildauge und der Nazi, leises Mitgefühl entwickelt.
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"Ich weiß, dass du irgendwo bist, Johannes. Es kann ja sein, dass du als Gefangener der Russen auf einem Lastkraftwagen liegst, die Augen aus den Höhlen gerissen, oder hungrig durch die Schluchten humpelst, den Knöchel von einem Polarfuchs angenagt, aber du lebst. Das spüre ich."