Erstellt am: 2. 1. 2015 - 14:31 Uhr
Führungslos auf Kollisionskurs
"Neuer Grad der Grausamkeit" (ORF.at)
Die italienische Küstenwache hat erneut ein Schiff mit Hunderten Flüchtlingen gerettet, das von der Besatzung verlassen wurde.
Wieder haben die italienischen Behörden im Mittelmeer Flüchtlinge von einem Schiff gerettet. Der Frachter mit 450 Menschen an Bord trieb führungslos Richtung Küste - die Besatzung hatte das Schiff verlassen und die Steuerung blockiert. Ein Flüchtling an Bord konnte das Funkgerät einschalten und die italienische Küstenwache alarmieren. Das Schiff bewegte sich mit 7 Knoten - also ca. 13 km/h - aufs Land zu. Als es entdeckt wurde, war es nur noch 65 Kilometer von der Küste entfernt. Erst in den letzten Minuten vor einer Kollision konnte die Küstenwache den Kurs des Schiffs ablenken und die Flüchtlinge an Bord retten.
ICELANDIC COAST GUARD / HANDOUT
Italiens Rettungsoperation "Mare Nostrum" hat in den letzten Jahren 170.000 Menschen aus dem Meer gerettet. Über 3.400 Menschen sind laut Angaben der UN allein im letzten Jahr im Mittelmeer auf dem Weg nach Italien ertrunken. Dass Boote und Schiffe mit Flüchtlingen an Bord immer wieder von der Crew verlassen werden, erklärt Harald Glöde von der NGO Borderline-Europe mit der europäischen Gesetzeslage.
Interview mit Harald Glöde
Wenn wir auf das Jahr 2014 zurückblicken, wie würden Sie die humanitäre Situation an der Außengrenze im Süden Europas beschreiben?
Harald Glöde: Die Situation ist aus meiner Sicht nach wie vor katastrophal. Wobei man sagen muss, dass es zumindest bis September die Operation der italienischen Regierung beziehungsweise der italienischen Kriegsmarine gegeben hat, "Mare Nostrum", die viele Menschen vor dem Ertrinken bewahrt und etwa 170.000 Menschen das Leben gerettet hat. Diese Operation ist aber nicht fortgesetzt worden. Die italienische Regierung hat versucht, die EU dazu zu bewegen, sich an der Operation zu beteiligen, sowohl finanziell, als auch materiell. Die EU hat sich aber letztendlich geweigert und aus meiner Sicht eine Alibi-Aktion gestartet, die Frontex-Aktion "Triton", die überhaupt nicht das Ausmaß von "Mare Nostrum" hat, weder finanziell, noch was das Seegebiet betrifft, das sie überwachen.
Frontex ist eine sogenannte Grenzschutzagentur. Frontex will keine Rettungseinsätze außerhalb einer sogenannten 30-Seemeilen-Zone mehr fahren. Was halten Sie davon?
Ich finde, dass ist ein ganz klarer Verstoß gegen internationale Seerechtskonventionen, weil Schiffe sind verpflichtet, andere, die in Seenot geraten sind, zu retten. Das ist nicht nur eine rein humanitäre absolute Selbstverständlichkeit, sondern das ist auch international festgelegt, dass in der Nähe befindliche Schiffe verpflichtet sind, Rettungsmaßnahmen zu starten. Und das kann man nicht auf einen bestimmten Radius, diese 30-Seemeilen-Zone vor der Küste Italiens, beschränken. Was ist, wenn ein Schiff in 35 Seemeilen in Not gerät? Das Vorhaben zeigt aber das Selbstverständnis dieser Organisation Frontex auf, die für die Abschottung der europäischen Außengrenzen zuständig ist.
Gestern sind 450 Flüchtlinge im Mittelmeer auf italienischem Staatsgebiet in Seenot geraten, das Boot wurde offenbar von der Crew verlassen. Ist das ein typischer Fall für Sie?
Auch das ist eine Konsequenz der Strafverfolgung, die die EU gegen sogenannte Schlepper vornimmt. Schlepper werden mit äußerst hohen Strafen, Gefängnisstrafen von zehn Jahren und mehr, belegt, und deswegen sind auf den Booten die eigentlichen Schlepper ganz oft nicht mehr vertreten, sondern das sind häufig Flüchtlinge, die sich ein bisschen mit der See auskennen und vielleicht schon mal ein Boot gesteuert haben, die dann als Schlepper verurteilt werden. Bei einem Schiff dieser Größenordnung setzt sich die Crew - bevor sie festgenommen wird - ab. Das ist dann zynisch gegenüber den Flüchtlingen, aber verständlich vor dem Hintergrund, dass sie in Italien mehr als zehn Jahre ins Gefängnis gehen müssten.
Was müsste sich an der Gesetzeslage ändern, damit so eine Katastrophe nicht mehr passiert?
Es müsste legale Zugangswege in die EU geben. Dadurch, dass es für Flüchtlinge unmöglich geworden ist, legal in der EU Schutz zu suchen, sind sie einfach auf diese Methoden, die verboten sind und kriminalisiert werden, und auf die Hilfe von solchen Leuten angewiesen, wenn sie aus Gebieten wie Syrien oder ähnlichen fliehen wollen.
Aufgrund der Ereignisse im letzten Jahr ist klar, dass die Grenzschutzagentur Frontex eher Alibihandlungen setzt und dass die Situation eine humanitäre Katastrophe nach der anderen nach sich zieht. Was erwarten Sie 2015 seitens der EU? Gibt es Anzeichen, dass die Politik geändert wird?
Ich kann bislang keine Anzeichen erkennen, dass sie geändert wird. Immer mehr Menschen regen sich auf, wie dort mit Flüchtlingen umgegangen wird, aber von politischer Seite, von Regierungsseite, insbesondere von den Innenministerien kann ich keine Änderung der Politik erkennen.
Was sind die Pläne ihrer NGO Borderline-Europe?
Wir werden weiterhin versuchen, möglichst viel Öffentlichkeit zu diesen humanitären Katastrophen herzustellen, um beizutragen, dass der öffentliche Druck größer wird und dadurch Regierungen vielleicht gezwungen werden können, das Ganze zu überdenken. Aber da ist der Druck von ganz vielen Menschen, von der Zivilgesellschaft notwendig. Wir versuchen hier einen Beitrag zu leisten.