Erstellt am: 19. 12. 2014 - 18:17 Uhr
Die unerträgliche Schwierigkeit des Seins
Tony Hughes ist vom Leben gegerbt. Ständig scheint er knapp vor der Implosion zu stehen, seine Kiefer mahlen manisch, er bleckt die Zähne. Sein Blick könnte wohl Tiger dressieren, sein Augenbrauenspiel ist imposant.
Der nordirische Schauspieler James Nesbitt gibt die Hauptfigur der englisch-französischen BBC-Show "The Missing" mit einer durchdringenden Körperlichkeit, die oft kaum auszuhalten ist – im besten Sinne. "The Missing" ist harter Tobak. Die diese Woche zu Ende gegangene erste Staffel der Serie befasst sich über acht Folgen lang mit der Zermürbung und dem Verfall. "The Missing" führt den Zuseher in den tiefsten Alptraum eines Ehepaars und schildert ihn mit Präzision und kaltem Realismus.
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Auf der ersten der beiden Zeitebenen der Show, im Jahr 2006, führt ein gemeinsamer Urlaub das englische Ehepaar Emily und Tony Hughes und ihren kleinen Sohn Ollie eher zufällig in ein pittoreskes, sehr um französisches Aussehen bemühtes, nordfranzösisches Kleinstädtchen nahe Lille. Dass die Begleiterscheinungen der Fußballweltmeisterschaft den Cafés, Bistros und Kneipen die akustische Kulisse liefern, gibt der Serie einen beiläufigen, beklemmenden Hauch von Authentizität.
Vater Tony und Sohn Ollie besuchen ein öffentliches Schwimmbad. Im Trubel der Übertragung eines Spiels der französischen Nationalmannschaft ist Tony einen Moment unachtsam - sein Sohn verschwindet spurlos. Und bleibt es bis auf Weiteres.
Verzweiflung und Schmerz geben "The Missing" so die Grundierung. In blassen Blau- und Grau-Tönen zeichnet die Serie die Ohnmacht des Ehepaars. Neben der ungerührt präsentierten Polizeiarbeit und dem verwinkelten Verfolgen immer neuer Hinweise, die dann oft ins Leere führen, steht die Gefühlswelt der Eltern im Mittelpunkt.
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"The Missing" zeigt einen Weg aus der Depression hinein in den Wahn. Dabei rührt die Show bisweilen etwas stark im Schmalztopf. Die Ehe muss zerbrechen, im Heute der Show ist Emily mit einem englischen Detective, seinerzeit auf englischer Seite mit ihrem Fall betraut, verheiratet und versucht sich einen kleinen Funken Optimismus immerhin vorzugaukeln. Sie versucht nach vorne zu blicken, Ehemann Tony jedoch kann und kann nicht lassen und verbeißt sich in jedes noch so kleine Detail des ungelöst gebliebenen Falles.
Neue Hinweise führen ihn zurück nach Frankreich, geschickt sind die zwei Zeitebenen gegeneinander geschnitten. Tony drängt den damals zuständigen Polizisten, heute pensioniert, den Fall noch einmal aufzurollen. Eine widerwillige Zweckfreundschaft erwacht hier zu neuem Leben: Tchéky Karo spielt den Franzosen Julien Baptise als französisch-flüsternd-besinnlichen Grübler, John Nesbitt ist ganz britischer Haudrauf. Würze erhält die Show hier durch den Umstand, dass ihre Hauptfigur, bei allem Verständnis für ihre Situation, ein ziemlicher Unsympath ist. Gewalttätig, mürrisch, erratisch. Die Vernunft wirft er schnell über Bord, lässt die Fäuste sprechen.
Auch wenn "The Missing" sicherlich nicht perfekt ist und einige kleine Ungereimtheiten, ein paar zu sehr herbeikonstruierte Verkettungen und Zufälle aufweist, ist die Show doch hoch empfehlenswert. Bedrückung und Betroffenheit, großer Suspense, schlank und dicht erzählt, Plot-Twists, die Kunst des Cliffhangers in relativer Meisterschaft. Jeder scheint in "The Missing" ein Geheimnis zu haben – klarerweise auch das Ehepaar selbst.
Eine zweite Staffel, mit neuem Cast und neuem Fall, wir kennen das Schema, ist bereits angekündigt, dem Finale der ersten ist das Problem einer zufriedenstellenden Lösung eines rätselhaften Falles recht großartig geglückt. Weil es eben kaum Geschenke macht und die Lösung ohne große Sensationsexlosion inszeniert. So wird die ganze Geschichte noch unangenehmer, einige Fragen bleiben offen. Das Leben ist kein Agatha-Christie-Roman.