Erstellt am: 17. 12. 2014 - 18:03 Uhr
Ach, was haben wir doch die Kultur verloren!
Man möchte meinen, es sei eine Kleinigkeit. Doch wie sehr unser Lese- mit unserem Denkfluss zusammenhängt, merkt man während der ersten Seiten dieses Buches. Fett gedruckt und am oberen Seitenrand stehen die Texte von Karl Kraus, in Normaldruck und unten die dazugehörigen Fußnoten von Jonathan Franzen. Da Franzen aber – das liegt in der Natur der Sache – mehr Worte für den Kommentar als Karl Kraus für seine Gedanken braucht, driften Ober- und Unterteil der Seiten auseinander. Man ist also sehr viel mit dem Denkhemmnis des Vor- und Zurückblättern beschäftigt. Was allerdings bald das geringste Problem des Buches sein wird, aber dazu weiter unten mehr.
Public Domain
Neuinterpretation
Zunächst beginnt "Das Kraus-Projekt" vielversprechend. Franzen gelingt es innerhalb weniger Seiten, den "kompliziert verschlüsselten Stil" von Kraus zu entwirren und uns mit seiner Begeisterung zu infizieren. So entdeckt man nicht nur die 100 Jahre alten, scharfzüngigen Formulierungen neu, sondern folgt auch freudig erstaunt Franzens Neuinterpretation der Texte.
"Wir treiben einen Weltverkehr auf schmalspurigen Gehirnbahnen"“ schrieb Karl Kraus vor 100 Jahren in seinem Aufsatz "Heine und die Folgen", in dem er – unter anderem – die rasanten technologischen Entwicklungen bei gleichzeitiger Verkümmerung der intellektuellen Kultur verurteilt hat. Der Gedanke ist in Anbetracht von Massenmotorisierung und Flexibilisierung der Arbeit erstaunlich zeitgemäß.
Übrigens: Wenn man im Netz nach "twitter stupid franzen" sucht, finden sich ein paar amüsante Polemiken zu, über und gegen Franzens notorischem Twitter-Hass, z.B. hier.
Der Guardian-Artikel "Whats wrong with the modern world?" wurde leider entfernt, aber es finden sich Teile daraus.
Wir sind zwar viel schneller am Ziel als vor 100 Jahren, aber haben wir unterwegs etwas verstanden? Bleibt nicht der Weg auf der Strecke? Franzen verknüpft diese Überlegungen mit Kraus'schen Aussagen über Individualität, Intellekt und Kultur ("in Kulturen, in denen jeder Trottel Individualität besitzt, vertrotteln die Individualitäten"), um sie gegen Schein-Ego-Konstruktionen auf Facebook, Twitter und Co. auffahren zu lassen. Er weist – pointiert und ohne Moralo-Attitüde – auf die Aktualität der Kraus'schen Texte hin. Da er aber kein populistischer Fortschrittsverweigerer ist, bleibt's bei der Feststellung. Auch Franzen möchte sein Ipad nicht missen.
Gemeinsame Erörterung
David Shankbone (CC BY 3.0)
Unterstützt von einem Freund, dem österreichischen Schriftsteller Daniel Kehlmann und dem Universitätsprofessor Paul Reitter wird Franzen vier Aufsätze von Kraus erklären, historisch beleuchten und – was den Hauptteil des Buches ausmacht -, um einen assoziativ anekdotischen Reigen an Beobachtungen und Gedanken zu seiner eigenen Entwicklung als Schriftsteller erweitern. So erfährt man nicht nur, dass Franzen pyromanisch veranlagt ist und als Kind einen kettenrauchenden Nachbarn namens Karl Kraus hatte, sondern auch einiges über seinen literarischen Größenwahn im Alter von 22 Jahren. Und muss als Leserin und Leser leider feststellen, dass der große Romanautor Jonathan Franzen nicht davor gefeit ist, große Banalitäten von sich zu geben. In dem Moment, in dem Franzen beginnt, seitenlang eigene Briefe an eine ehemalige Verlobte zu zitieren und über das Verhältnis zu seinen Eltern zu schwadronieren, wird es küchenpsychologisch boulevardesk. Und all das, während am oberen Seitenrand Karl Kraus mit der Verteidigung des Sprach- und Sprechwitzes von Johann Nestroy beschäftigt ist. So hat man es also bei "Das Kraus-Projekt" nicht nur mit dem bereits erwähnten Umblättern zu tun, sondern auch mit zwei grundsätzlich unterschiedlichen Anforderungen an Konzentration und Hirnschmalz. Wobei einen der untere Teil der Seiten deutlich unterfordert.
Rowohlt
"Das Kraus-Projekt" von Jonathan Franzen, erschienen bei
Rowohlt.
Über das Doofe
"Wohin Franzen sich auch wendet, das Schlechte und das Doofe sind schon vorher da", hat Florian Kessler in der Süddeutschen Zeitung äußerst treffend über Franzens etwas altkluge Essay-Sammlung "Weiter weg" geschrieben. So leicht will sich's Franzen nun hier, angesichts des messerscharf analytischen, treffsicher das Doofe in der Modernität entlarvenden Karl Kraus nicht machen, was ihm im ersten Drittel des Buches weitgehend gelingt. Doch dann gerät er in selbstverliebtes Plappern, für das nur Männer (und niemals Frauen) eine derartige Bühne bekommen (die Lösung für dieses Problem ist nicht, dass auch Frauen die Bühne zur Egopolierung bereitgestellt, sondern dass sie den Männern entzogen wird).
Kurz, bündig und böse formuliert: ein Starautor stülpt sich eine intellektuelle Sprachprothese über, ein nach internationalem Ruhm strebender österreichischer Autor fährt im Windschatten mit und ein Germanistikprofessor schiebt den Karren an, wenn er lahmt.