Erstellt am: 19. 12. 2014 - 10:31 Uhr
Theoretisch fliegt die Hummel nicht
Eine Person mit einem "Oreo"-Keks zu vergleichen ist schon absurd. Aber das auch noch als Kompliment zu verkaufen, das muss eine mal zusammenbringen. Shirley Eudora Pesterneck im Roman "Schweinesystem" von Christine Koschmieder gelingt das und noch mehr. "Ich kann einen Oreo-Keks aus Ihnen machen", erklärt Shirley einer "fetten kleinen Meerjungfrau" mit vier Tüten voller Lebensmittel im Einkaufswagen knapp vor dem Supermarktausgang. Willkommen im Mittleren Westen der USA Anfang der 1980er Jahre. Wie den Keksen sehe man manchen nicht an, was in ihnen stecke, doch kenne man erst mal den cremigen Kern, wolle man sie haben.
Es ist nur eine von vielen Passagen, die so böse wie komisch sind und dabei eine Ära einfangen. "Schweinesystem", der Titel des Buchs, zieht sich durch mehrere Ebenen. Die Schauplätze wechseln zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Iowa in den USA. Allen voran geht es um zwei junge Frauen, die mehr vom Leben wollen. Und um Manipulationsstrategien, die unvorhergesehene Ausmaße annehmen werden.
Aufbau Verlag
"Schweinesystem" von Christine Koschmieder ist im Aufbau Verlag erschienen.
Von Hummeln und Affären
Zuallererst ist da mal die junge Amerikanerin Shirley mit Kind, die ihrem Dasein zwischen Arbeit in einem Schweineschlachtbetrieb und der finanziellen Abhängigkeit ihres Freundes entkommen will - indem sie Vertreterin der Kosmetikmarke Mary Kay wird. Das System des Unternehmens funktioniert ähnlich jenem von Tupperware, Frauen verchecken anderen Frauen exklusiv Produkte.
Von Mary Kay stammt die im Roman zitierte Legende von der Hummel: aerodynamisch betrachtet wären die Flügel des Insekts zu schwach und sein Körper zu schwer, um fliegen zu können. Aber die Hummel fliegt, weil sie nicht weiß, dass sie das nicht können dürfte. "Es den anderen zu zeigen, allen Unkenrufen zum Trotz, die Fakten zu besiegen, das ist einer dummen Hummel Antrieb genug, um zu fliegen."
Auf einer Flughafentoilette in London schenkt Shirley einer deutschen Zufallsbekanntschaft einen fuchsiafarbenen Lippenstift. Elisabeth ist Studienrätin, von ihren Idealen trägt sie noch den Jean-Seberg-Bubikopf mit Stolz. Sie ist genervt von ihrer kleinen Tochter und frustriert verheiratet mit einem politisch unzufriedenen Mann. Der RAF, der Roten Armee Fraktion, galt der Staat als "Schweinesystem". In diesem Staat, der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1980, trägt Elisabeth ihren neuen Lippenstift auf und beginnt eine Affäre.
Der Buchrücken, dieser Verräter!
Sven Klages
Dass die Geschichte kein gutes Ende nimmt, verrät bereits der Buchrücken. Wie kann man den Ausgang einer Geschichte beinhart außen auf das Buch drucken? Ein Spoiler als Teaser? Garantiert ist das mit voller Absicht passiert. Denn die Autorin kennt sich aus mit der Vermarktung von Literatur. Christine Koschmieder betreibt die Literaturagentur "Partner & Propaganda" in Leipzig. Als Kind habe sie immer RAF gespielt, sagt Koschmieder in einem Interview, doch einen "x-ten-Meine-Kindheit-im-Deutschen-Herbst-Text" wollte sie nicht schreiben. "Schweinesystem" ist das auch nicht geworden. Die realen historischen Gegebenheiten und Ereignisse sind fein eingewoben. Man muss für dieses Buch nicht Stefan Austs "Der Baader-Meinhof-Komplex" gelesen haben. Aber der Roman ist auch keine Chick Lit. Dafür sind seine Figuren zu liebevoll erfasst und die Geschichte wird in ihrem Verlauf zu heftig und böse-witzig.