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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

21. 12. 2014 - 10:51

Von der Einsamkeit zum Vertrauen

Die amerikanische Autorin Christina Baker Kline hat mit "Der Zug der Waisen" einen berührenden Roman über ein dunkles Kapitel ihres Landes geschrieben: Die harte Suche hunderttausender Kinder nach einer Pflegefamilie.

New York 1929

"Wir recken die Hälse, um auf die Schienen blicken zu können und plötzlich steht er da: Eine schwarze Lokomotive ragt über uns auf, wirft ihren Schatten über den Bahnsteig und stößt zischenden Dampf aus wie ein gewaltiges, keuchendes Tier."

Die neunjährige Vivian hat bei einem Wohnungsbrand ihre Familie verloren, die vor kurzem aus Irland in die Staaten geflohen war, um dort ihr Glück zu versuchen. Jetzt wird sie von der Children's Aid Society mit tausenden von Kindern mit der Hoffnung in den Westen geschickt, dass dort eine Pflegefamilie auf sie warten könnte.

"Niemand hat Mitleid mit mir, weil ich meine Familie verloren habe. Jeder von uns hat eine traurige Geschichte; anderenfalls wären wir nicht hier. Die meisten haben das Gefühl, dass es am besten ist, nicht über die Vergangenheit zu sprechen, dass das Vergessen am schnellsten Linderung bringen wird."

Doch die junge Vivian merkt schnell , wie die harte Realität wirklich aussieht. Wie auf einem Tiermarkt werden die Kinder auf kleine Bühnen geführt, um dort von der jeweiligen Dorfgemeinschaft begutachtet zu werden. Bevorzugt werden Kleinkinder und kräftige Jungen, die auf den Farmen arbeiten können.

Als sich schließlich doch eine Familie für Vivian interessiert, weiß sie noch nicht, dass nicht ihre Erlösung bevorsteht, sondern es erst der Anfang eines langen Leidenswegs ist.

Spurce Harbor, Main 2011

Christina Baker Kline Buchcover "Der Zug der Waisen"

Goldmann Verlag

"Der Zug der Waisen" von Christina Baker Kline ist in deutscher Übersetzung v on Anne Fröhlich im Goldmann Verlag erschienen.

Die Teenagerin Molly hat wieder einmal große Probleme mit ihrer Pflegefamilie. Es sind nicht nur ihre pechschwarz gefärbten Haare, ihre violetten und weißen Strähnen oder die mit Kajalstift schwarz umrandeten Augen, die ihre Pflegemutter Diane zu verächtlichen Bemerkungen veranlassen. Auf Mollys Meinung wird ebensowenig Wert gelegt, wie auf ihre Anwesenheit. Da kann auch der nette aber rückgratlose Pflegevater Ralph nichts für sie tun.

"Und doch - im Großen und Ganzen weiß Molly, dass sie es recht gut hat: ein eigenes Zimmer in einem sauberen Haus, berufstätige Pflegeeltern, die nicht alkoholabhängig sind, eine gute Schule, ein netter Freund.
In den letzten neun Jahren ist sie in mehr als einem Dutzend Pflegefamilien gewesen, in manchen weniger als eine Woche. Sie ist mit einem Pfannenheber verprügelt worden, man hat sie ins Gesicht geschlagen, ließ sie im Winter in einer ungeheizten Glasveranda schlafen, ein Pflegevater brachte ihr bei, wie man Joints dreht, und man schärfte ihr Lügen für den Sozialarbeiter ein."

Als Molly schließlich ein Buch aus der städtischen Bibliothek klaut, wird sie auch noch zu gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Ihr Freund Jack vermittelt ihr die Möglichkeit, bei einer alten Frau den Dachboden auszuräumen. Was Molly allerdings noch nicht weiß ist, dass diese Arbeit bei der einundneunzigjährigen Vivian ihr Leben verändern wird.

Geschichte und Fiktion

Portraitfoto Autorin Christina Baker Kline

© Karin Diana, c/o William Morrow

Die amerikanische Autorin Chistina Baker Kline hat sich einem historischen Thema angenommen, das vielen völlig unbekannt ist. Den Zügen der Waisen, die zu hundertausenden in den Westen der USA geschickt wurden, um Familien zu finden, die sie ernähren sollten. Sie hat viel recherchiert und mit ehemaligen Waisen der Orphan Trains von damals über ihre Erlebnisse gesprochen. Die Geschichte der neunjährigen Vivian ist zwar fiktional, könnte aber genau so passiert sein, wie Kline in einem Interview erklärt.

Gerade die Schilderungen des Amerika der 1920er Jahre sind der Schriftstellerin extrem gut gelungen. Mit einer klaren und reduzierten Sprache versetzt sie uns sofort in die zugigen Landhütten, setzt uns neben die hart arbeitenden Näherinnen, schickt uns zu Fuß durch stürmische Winterlandschaften und lässt uns hautnah am psychischen Druck und der unerbittlichen Zwangslage der Kinder teilhaben. Dabei verurteilt sie nicht, sondern macht deutlich was es einerseits heißt, seine Identität aufzugeben und andererseits was es bedeutet, ein fremdes Kind in die eigenen, schwierigen Verhältnisse zu integrieren.

Die Wechsel zwischen der drastisch beschriebenen, historischen Ebene und der bedacht gefühlvollen Geschichte in der Gegenwart gibt immer wieder Zeit zu verschnaufen. Darüber hinaus entwickelt die Beziehung zwischen der jungen Molly und der alten Vivian den heilenden Prozess einer Freundschaft. So vermittelt Chistina Baker Kline mit "Der Zug der Waisen", dass wir trotz widrigsten Umständen, herben Enttäuschungen und verlorener Identität es schaffen können, Menschen wieder zu vertrauen und damit das zurückzugewinnen, was uns am Leben hält: Den Hass und die Wut hinter uns zu lassen und wieder lieben zu können.