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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

16. 12. 2014 - 12:32

Das Gegenteil von Minimal

Sie werden in kaum einer Jahresbestenliste auftauchen und doch ist das Debütalbum "Kara" des Londoner Duos We Are Shining eine der aufregensten Scheiben des Jahres.

Die Szene wirkt wie aus einem Agenten-Thriller: Drei Männer kauern in einem Pariser Hotelzimmer über einem Laptop. Daten werden abgerufen, Köpfe genickt. Dicke Rauchschwaden hängen in der Luft. Kommt es zum Deal? Für die Produzenten Morgan Zarate und Acyde ist diese Nacht in Paris tatsächlich thrilling, denn der Typ, der sich ihre Tracks anhört, ist Hip-Hop-Superstar Kanye West.

"Man kann über Kanye sagen was man will, aber er ist ein Musikliebhaber erster Güte. Er stellt präzise Fragen und achtet auf die kleinsten Details. Ihn interessiert vor allem, wie etwas gemacht wird", erzählt Acyde beim FM4-Interview in Berlin.

We Are Shining in Berlin

Christian Lehner

We Are Shining in Berlin

Zarate und Acyde haben sich in London u.a. als Produzenten und Remixer für das Label Hyperdub einen Namen gemacht. Mit der Zeit war ihnen das hippe Zuarbeiten für andere aber nicht mehr genug. "Du bist immer von einem Künstler, Verleger oder Label abhängig. Der Artist findet den Beat super, das Label lehnt ihn jedoch ab. So geht das immer hin und her."

Auch bei Kanye hat es nicht geklappt. Vorerst. Der Nacht in Paris folgten zwar Aufnahmessions, doch am Ende wurde kein einziges Soundbit für das West-Album "Yeezus" (2013) verwendet. "Eine ganz normale Erfahrung als Handlungsreisender in Sachen Beats and Breaks", so Zarate. Immerhin hält Kanye, der Art Director des Hip Hop, noch immer regen Kontakt. Vielleicht taucht der Name der beiden ja in den Liner Notes der neuen, schon jetzt heftigst mythisierten West-Platte auf.

Die Zeit war also reif für einen eigenen Wurf. "Kara" heißt das Debütalbum von We Are Shining. Es ist das erste "Musiker"-Album der beiden Studio-Wizards und es ist ein Album, wie es sich für Punters aus London gehört. Stichwort: kleine Wohung, große Klappe.

Acyde: "Wir wollten ein Rockalbum nach den Kriterien von hartem HipHop machen. Bis in die 90er Jahre hatten viele Rockbands einen mächtigen Groove. Das fehlt heute total. Wenn The Roots nicht gerade eine depressive Phase haben, hauen sie vom HipHop kommend so ein Ding raus. Aber sonst ist da nur gähnende Langeweile."

Der Mut zum Fehler und die Lust nach dem Vielen sind frühe Eindrücke beim Hören. "Wir sind das Gegenteil von Minimal", so Acyde weiter, "und anstatt ewig an einem Beat herumzufeilen, haben wir grob geschnitten und dick aufgetragen. Der Vibe war uns wichtiger als eine perfekte Produktion. Insofern richtet sich 'Kara' wohl auch gegen die glatte Perfektion zeitgenössischer Mainstream-Tracks."

Der Ausgangspunkt war ein Sample alter türkischer Volksmusik. Morgan: "Acyde hat da einfach drübergetoasted. Erst so haben wir entdeckt, dass er über eine mehr als passable Stimme verfügt. Daraus ist der Track 'Hey You!' entstanden. Niemand von unseren Freunden hat uns das abgenommen. Das soll Acyde sein? No way!"

"Kara" ist ein Melting Pot von einem Album. Bengalische Feuer köcheln am Krautrock. Beat- und Soundgewitter entladen sich über wummernden Basslandschaften. An den Rändern sorgen Psychedelic-Schwärme für Auflösungserscheinungen der Formen. Der Hörer wird in ein Dickicht von Sounds geworfen. Die Artenvielfalt kommt Noahs Passagierliste gleich. Im Kern drohen die Tracks förmlich zu platzen. Überall zischen die Druckventile. Dass sich hier ein jahrelang kultivierter Triebstau entlädt, macht "Kara" selbst in den ruhigeren Zonen nicht gerade zu einer zarten, aber doch unwiderstehlichen Versuchung. Features gibt es jede Menge. Neben Acyde sind auch die Stimmen der Sängerinnen Roses Gabor, Andrea Balency Eska und Shingai (The Noisettes) zu hören.

Acyde von We Are Shining in Berlin

Christian Lehner

Acyde von We Are Shining in Berlin
Albumcover von "Kara" von We Are Shining. Ein Menschenkopf mit Maske auf gemustertem, schwarz-roten Hintergrund.

We Are Shining

"Kara" von We Are Shining ist bei Marathon Artists erschienen.

Alles super und super gaga also im Paradies, wäre da nicht ein kleiner Wermutstropfen. FKA Twigs, die in East London nur eine Häuserzeile entfernt von Zarate und Acyde gewohnt hat und bis vor kurzem Dauergast im We Are Shining Studio war, hat zwar mit "Breaks" einen Song für "Kara" geschrieben, ihn aber nach ihrem internationalen Durchbruch doch nicht selbst eingesungen. Das Management hat vorerst alle Kollaborationen zurückgezogen.

Aber schon grinsen die beiden wieder. Morgan: "Am Telefon habe ich versucht sie zu überreden und ihr erzählt, dass Kanye begeistert war, als wir ihm den Track vorgespielt hatten. Sie sagte nur: 'Kanye? Der hat mich gefragt, ob ich auf seinem neuen Album singen möchte. Auch er hat einen Korb bekommen' Twigs ist eine unglaubliche Persönlichkeit und eine großartige Künstlerin." So schließt sich der Kreis von Begehren und Zurückweisung und lässt doch Optionen offen für die Zukunft.

'Kara' wird zwar in kaum einer Jahresbestenliste aufscheinen, in meinen Ohren ist es aber einer der schillerndsten, außergewöhnlichsten und aufregendsten Scheiben der letzten 12 Monate.

Anspieltipps: The Road, Wheel, Breaks, Hot Love