Erstellt am: 6. 12. 2014 - 16:00 Uhr
"Ich weiß, daß der Tote stärker in mir lebt als ich selbst"
Die Erlebnisse am besten unterdrücken und vergessen, rieten Ärzte den Kriegsheimkehrern, die an traumatischen Spätfolgen des Ersten Weltkriegs litten. Einer davon war Andreas Latzko. In der k.u.k. Armee kämpfte der Journalist und Schriftsteller 14 Monate an der Isonzo-Front gegen Italien.
* "Kriegszitterer" waren damals ein Massenphänomen - eine posttraumatische Störung, die häufig als Simulation verstanden und gegen die teilweise mit Elektroschocks vorgegangen wurde.
Er erkrankte an Malaria, musste nach seiner Genesung wieder an die Front, wo er nach einem Nervenzusammenbruch zum "Kriegszitterer"* wurde.
Zur Erholung schickte man den 1876 in Budapest geborenen Latzko in die Schweiz. Andreas Latzko aber unterdrückte seine Erinnerungen nicht, sondern verarbeitete sie schreibend.
"Ich krank? Und die anderen, die über das Zerfetzen, Zerfleischen, Zerstampfen ihrer Brüder, über das langsame Verzappeln von Menschen im Stacheldrahte hinwegblättern können wie über weiße Seiten, die sind gesund... ? Ja, wo soll ich denn mit dem Vergessen anfangen, meine Herren Doktoren?"
Die Erzählungen erscheinen zuerst anonym in der Schweizer Presse. Sechs davon 1917 gesammelt unter seinem Namen in dem Band "Menschen im Krieg".
milena verlag
Die sechs Novellen bilden in sich ein Ganzes - beginnend mit dem "Abmarsch" aus einer kleinen österreichischen Provinzstadt, bei der der Erzähler den Frauen vorwirft, dass sie Helden wollen und niemanden zurückhalten.
Weiter auf das Schlachtfeld zur "Feuertaufe", bei der ein Hauptmann seine Kompanie vor dem Kampf schützen will, was ihm ein kriegsgeiler junger Leutnant aber unmöglich macht.
In "Der Sieger" führt ein General in einer Kleinstadt ein angesehenes, feudales Dasein. Bei der nachmittäglichen Kaffeegesellschaft erklärt er einer Dame, während Soldaten an ihnen vorbei in den Urlaub bzw. wieder in den Krieg ziehen: "Da! Dieses Treiben möchte ich einmal den Herren Pazifisten zeigen, die immer so tun, als wäre der Krieg nichts als ein scheußliches Gemetzel. Sie hätten dieses Nest im Frieden sehen sollen, gnädige Frau. Zum Einschlafen!"
Als der General von einem Journalisten gefragt wird, wann er denn mit Frieden rechnen würde, zuckt er zusammen. "Auf den Frieden hoffen? Konnte denn so ein Zivilist gar nicht begreifen, daß ein kommandierender General eben nur im Krieg wirklich kommandierte und wirklich General war, im Frieden aber nur so was wie ein strenger Herr Lehrer mit goldenem Kragen; ein Ölgötze, der sich aus Langeweile zuweilen heiser schreit."
TASCHEN/LVR LandesMuseum Bonn
In "Kamerad" kämpft ein Soldat mit seiner Erinnerung: "Ich weiß aber, daß nicht ich den toten Kameraden gewaltsam durch mein Leben schleife. Ich weiß, daß der Tote stärker in mir lebt als ich selbst."
In "Heldentod" wird ein verwundeter Oberleutnant von einer Szene gequält, in der einem Kadetten der Kopf weggerissen wird und stattdessen eine Schallplatte des Radetzkymarsches zu liegen kommt.
TASCHEN
Und in "Heimkehr" schließlich begleitet man einen entstellten Soldaten auf dem Weg zu seinem Heimatort. Im Lazarett war er mit seinen vielen Gesichtsoperationen eine Art Berühmtheit geworden, im Dorf löst er Entsetzen aus. Letztlich kann er zwischen Schlachtfeld und Alltag nicht mehr unterscheiden.
Es sind grausige Geschichten.
Es sind brutale Geschichten.
Es sind lesenswerte Geschichten.
Diese Antikriegsliteratur war in den kriegsführenden Staaten verboten, wurde aber in 30 Sprachen übersetzt. Dass Latzkos Werk mittlerweile beinahe vergessen wurde, begründet Hans Weichselbaum im Nachwort damit, dass keine Gruppierung oder Institution ein stärkeres Interesse an Latzko hatte, weder galt er als ungarischer, noch als deutscher Autor, schon gar nicht als Schweizer.
TASCHEN
Umso bedeutender, dass ein kleiner österreichischer Verlag dieses ergreifende Zeitdokument wieder aufgelegt hat. Ein Zeitdokument, von dem Karl Kraus sich in der "Fackel" überzeugt zeigte, dass das offizielle Österreich noch stolz darauf sein würde. Er hatte sich getäuscht.
"Menschen im Krieg" kann das, was Antikriegsliteratur im besten Fall können sollte: die Schrecken und das Elend des Krieges begreifbar machen.
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Comics zum Ersten Weltkrieg auf FM4 von Jacques Tardi und Joe Sacco.
Ebenfalls sehr empfehlenswert ist der Bildband "Der Erste Weltkrieg in Farbe", mit ausschließlich Farbfotos. Wenige Fotografen verwendeten im Ersten Weltkrieg das erst kurz zuvor erfundene Autochrom-Verfahren. Die Aufnahmen stammen aus Archiven in Europa, Amerika und Australien und zeigen posierende Soldaten, Alltagsszenen an der Front, Krieg spielende Kinder, zerbombte Häuser, zerstörte Landschaften, verwundete Soldaten, Soldatenfriedhöfe.
Farbe im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg wirkt etwas befremdlich, ist das kulturelle Gedächtnis doch eher schwarz/weiß geprägt. Umso berührender sind diese Bilder, vor allem die der Zivilisten.
Die Kombination dieser Bilder mit Latzkos Texten verdeutlicht besonders den Irrsinn dieser weltweiten Völkerschlacht. Das stimmt im besten Sinne nachdenklich.