Erstellt am: 3. 12. 2014 - 14:57 Uhr
"Eigentlich sind wir wie Arbeitskollegen"
Licht ins Dunkel
FM4 unterstützt den Verein Reiz bei der Einrichtung eines 24-Stunden-Bereitschaftsdienstes für persönliche Assistenzen in Vorarlberg.
Alle Infos zu Aktionen, den Verein Reiz und die Selbstbestimmt Leben Initiative findest du auch auf fm4.orf.at/lichtinsdunkel.
Süleyman Kurt ist Frühaufsteher. Ungefähr um 7 kommt sein persönlicher Assistent Daniel Reis in die kleine Wohnung in Dornbirn. Er hilft Süleyman aus dem Bett in den Rollstuhl.
"Eigentlich sind wir wie Arbeitskollegen", sagt Süleyman, während er sich mit der Hilfe von Daniel in seinen Rollstuhl setzt. Daniel und Süleyman bewältigen den Alltag gemeinsam. Heute bekommen sie noch zusätzliche Unterstützung von einer weiteren Assistentin, Gül.
FM4 / Christian Stipkovits
Der ältere Bruder
Während Gül das Frühstück zubereitet, geht Daniel in die Bäckerei und ich setzte mich mit Süleyman an den Tisch. An den Wänden der Wohnküche hängen Familienfotos und einige Kalligrafien von islamischen Gebetsformeln. Die Dekorationen verraten, dass Süleyman aus der Türkei stammt. Teppiche gibt es aber nicht, die wären ein Hindernis für den elektrischen Rollstuhl.
Ich stamme auch aus der Türkei, deshalb spreche ich Süleyman mit "abi" an. "Abi" ist das türkische Wort für einen älteren Bruder. Süleyman ist 47 Jahre alt, doch oft wird er wie ein Kind behandelt, denn die Cerebralparese beeinflusst seine Sprechmuskulatur. Und viele Menschen setzen eine sprachliche Behinderung mit einer geistigen Behinderungen gleich.
Ein schwieriger Anfang
Daniel kommt mit dem frischen Brot zurück und wir beginnen unser Gespräch. Das Interview am Frühstückstisch ist am Anfang für uns beide nicht einfach. Wenn Süleyman aufgeregt ist, werden seine Krämpfe stärker. Und mir passiert das, was Süleyman aus seinem Alltag gut kennt. Ich werde ungeduldig. Das Zuhören fällt mir schwer und ich falle ihm ins Wort.
"Lass ihn ausreden. Er spricht noch!" verwarnt mich Daniel, der für mich Süleymans Sätze wiederholt. Langsam entwickeln wir ein gemeinsames Tempo. Ich lerne zuzuhören und Süleyman spricht entspannter.
Süleyman ist Sprache ein besonderes Anliegen, denn er ist Autor. Er hat zwei Bücher geschrieben, aber er weiß, dass ihn nicht alle auf Anhieb verstehen, wenn er spricht. Zu seinem Ärger nicken viele Menschen und tun so als hätten sie ihn verstanden. Oft werden seine AssistentInnen angesprochen und nicht er.
"Eiserne Beine"
Es war aber auch für Süleyman selbst nicht einfach, die Idee des selbstbestimmten Lebens zu akzeptieren, gibt er zu. "Weil ich mir nicht gut vorstellen konnte ohne die Lebenshilfe zu leben." Bis er in seine eigene Wohnung zog, hat Süleyman jahrelang in unterschiedlichen Einrichtungen gelebt. Meistens mit Menschen, die geistige Behinderungen haben.
Der Umstieg von der klassischen Betreuung in das Leben mit der persönlichen Assistenz war nicht einfach, denn er hatte nie gelernt, so Verantwortung zu übernehmen wie er es heute tut. Diese Eigenverantwortung macht den Unterschied zwischen Betreuung und persönlicher Assistenz aus. Süleyman muss die Anleitungen geben, er muss selbst seinen AssistentInnen erklären, welche Leistungen er sich erwartet.
Süleymans erstes Buch, eine Autobiografie, trägt den Untertitel "Eiserne Beine". Heute weiß er, dass er auch mit "eisernen Beinen" selbstbestimmt leben kann.
Der Weg in die Arbeit
Nach dem Frühstück, decken Daniel und Gül auf Anweisung von Süleyman den Tisch ab. Daniel geht mit ihm ins Bad und gibt Süleyman die Zahnbürste. Dann geht er raus auf den Balkon. "Privatsphäre ist ihm sehr wichtig. Beim Zähneputzen möchte er allein bleiben." sagt er. Mit Zurückhaltung und offenerer Kommunikation entstehen auch im Alltag mit persönlicher Assistenz private Räume.
Ein Anruf vom Verein Reiz unterbricht unser Gespräch. Süleyman arbeitet selbst bei Reiz und muss heute die neuen Flyer gestalten. Wir verabschieden uns. Süleyman zieht seine Lederjacke an, zündet sich eine Zigarette an und fährt mit dem elektrischen Rollstuhl in die Arbeit.