Erstellt am: 26. 11. 2014 - 15:00 Uhr
Eigenverantwortung statt Bevormundung
FM4 für Reiz
FM4 unterstützt im Rahmen von Licht ins Dunkel den Verein reiz in Vorarlberg, der Teil der Selbstbestimmt Leben Initiative ist.
Reiz möchte ab April 2015 einen Bereitschaftsdienst der Persönlichen Assistenz für Menschen mit Behinderung einrichten.
- Alle Infos auch auf fm4.orf.at/lichtinsdunkel
Selbstbestimmung bedeutet die Kontrolle über das eigene Leben zu haben und alle Entscheidungen selbst zu treffen.
Selbstbestimmung bedeutet nicht, dass man alle Handlungen ohne fremde Hilfe ausführen können muss.
Diese Differenzierung steht in den Statuten des gemeinnützigen Vereins Selbstbestimmt Leben Initiative Österreich (SLIÖ) und ist gleichzeitig der Grundsatz der internationalen Emanzipationsbewegung Independent Living aus der sie hervorgegangen ist, und die im Umgang mit behinderten Menschen einen Paradigmenwechsel eingeleitet hat: Statt dem "Hilfe für die Hilflosen"-Dogma stehen hier behinderte Personen als ExpertInnen ihrer eigenen Lebenssituationen im Mittelpunkt. Gemäß dem Prinzip der Selbstrepräsentation sind daher auch in allen Mitgliedsvereinen ausschließlich Männer und Frauen mit Behinderungen in führenden Positionen.
Nothing about us without us
Die UN-Behindertenrechts-konvention (BRK) ist ein internationaler Vertrag, in dem sich die Unterzeichnerstaaten verpflichten, die Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten.
Darunter fallen u.a. barrierefreie Mobilität und Kommunikation, die freie Entscheidung über Wohnsituation und Familiengründung, Chancengleichheit in Bildung und Arbeitsmarkt, das Recht, seine Geschäfte und Rechtsangelegenheiten selbst zu regeln, politische Partizipation und nicht-diskriminierende Darstellung in den Medien.
In Österreich ist die BRK seit 26. Oktober 2008 in Kraft und im § 13 Bundesbehindertengesetz verankert.
Ein unabhängiger Monitoringausschuss überwacht die Einhaltung der BRK und nimmt Beschwerden entgegen.
Die Beurteilung des letzten Staatenberichts zur Situation in Österreich hat deutliche Mängel in der Umsetzung festgestellt.
Erstmals laut geworden ist der Ruf nach Selbstbestimmung in den 1960er-Jahren im Rahmen der US-Bürgerrechtsbewegung, als eine Gruppe behinderter Studierender an der University of Berkeley in Kalifornien ein Modell für autonomes Wohnen verwirklichte. Später wurde das Projekt zum ersten Independent Living Center, in dem Peer Counseling, also Beratung von Behinderten für Behinderte, und andere Selbstermächtigungsstrategien vermittelt wurden.
Nach diesem Beispiel hat sich die Bewegung in andere Länder verbreitet und ist Anfang der 1980er-Jahre auch in Österreich angekommen, wo man bis dahin mit derartigen Empowermentkonzepten noch nicht viel anfangen konnte.
Die traditionellen Behindertenverbände waren darauf ausgerichtet, ihr Klientel zu behandeln und zu verwalten, und haben damit ein gesellschaftliches Verständnis von Behinderung verfestigt, das nach wie vor vorwiegend medizinisch definiert ist.
"Es geht nicht darum, Behinderung zu reparieren, zu heilen, die behinderten Menschen an eine vermeintliche Normalität anzupassen oder gar zu verstecken", sagt die Obfrau der Selbstbestimmt Leben Initiative Bernadette Feuerstein. "Behinderung ist eine von vielfältigen Lebensformen in dieser Welt, mit der umzugehen wir lernen müssen."
Persönliche Assistenz statt Pflegeheime
Eine der wichtigsten Forderungen der Selbstbestimmt Leben Initiative ist eine österreichweit einheitliche Regelung für Persönliche Assistenz, für die derzeit nur teilweise und nicht in allen Bundesländern öffentliche Mittel zur Verfügung stehen.
Eine flächendeckende Persönliche Assistenz würde Menschen mit Behinderung erlauben, ihren Alltag ganz nach ihren individuellen Vorstellungen und Bedürfnissen zu gestalten, ganz gleich ob sie berufstätig sind, Familie haben, gern kochen oder auf Reisen gehen.
Zudem könnte mit diesem Modell in vielen Fällen die Abhängigkeit vom Wohlwollen von Familienmitgliedern oder vom Dienstplan in großen Einrichtungen überwunden werden, so Feuerstein. "Dort muss ich vielleicht um 19 Uhr ins Bett, weil es danach keine sozialen Dienste mehr gibt".
Die SLIÖ hält Pflegeheime und ähnliche Einrichtungen ohnehin für problematisch, weil es immer wieder zu Missbrauch und struktureller Gewalt käme. Ihre Abschaffung wird von vielen BehindertenvertreterInnen gewünscht, ist derzeit aber unrealistisch. Dennoch, so sagt die Obfrau, sei es ein Trugschluss zu glauben, große Heime wären billiger als die Persönliche Assistenz. Man müsse es nur durchrechnen.
Versionen der UN-Konvention
Obwohl die BRK unter großer Beteiligung von Menschen mit Behinderungen verhandelt worden ist, war das bei der offiziellen deutschsprachigen Übersetzung nicht der Fall. Sie erhält daher aus Sicht vieler Behindertenvertretungen mehrere inhaltlich bedeutsame Übersetzungsfehler: Z.B. wurde "independent living" mit "unabhängiger Lebensführung" statt mit "selbstbestimmt Leben" übersetzt, oder "accessibility" mit "Zugänglichkeit" statt mit "Barrierefreiheit".
In Österreich, Deutschland, Liechtenstein und der Schweiz empfehlen die meisten Behindertenorganisationen daher die überarbeitete, inoffizielle des deutschen Vereins Netzwerk Artikel 3.
Weitere Versionen der BRK gibt es unter anderem in
Menschenrechte gelten auch für Menschen mit Behinderung
Die Selbstbestimmt Leben Initiative engagiert sich auch für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. In Österreich gibt es für Menschen mit Behinderungen nach wie vor weder faire Bildungschancen noch ausreichende Arbeitsmöglichkeiten. Sonderschule und Sachwalterschaft, also die rechtliche Entmündigung von beeinträchtigten Personen, gelten als institutionalisierte Diskriminierungen und sollten aus Sicht vieler BehindertenvertreterInnen längst abgeschafft sein.
Netzwerk Artikel 3
Arme Hascherl oder Helden
Langfristig brauche es allerdings eine neue, positive Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen, meint Bernadette Feuerstein. Ein Ziel, das nur mithilfe einer adäquaten Darstellung in den Medien erreicht werden könne, die der Lebensrealität von beeinträchtigten Personen gerecht wird und sie nicht als karitative Objekte betrachtet.
"Man sieht entweder bedauernswerte Menschen, die armen Hascherln oder einzelne herausragende Helden", sagt sie, "die Wahrheit liegt aber dazwischen".
Tatsächlich treten Menschen mit Behinderungen in den Medien kaum außerhalb des Kontextes ihrer Beeinträchtigungen in Erscheinung - selbst wenn es um völlig andere Dinge geht. Der Astrophysiker Stephen Hawking wird vermutlich immer der ALS-Patient mit Sprachcomputer bleiben, selbst wenn er vor der versammelten Weltöffentlichkeit von einem seiner schwarzen Löcher verschluckt und wieder ausgespuckt würde.
Dabei steht im Artikel 8 der UN-Konvention zum Stichwort Bewusstseinsbildung Folgendes:
Die Vertragsstaaten verpflichten sich (...) Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen (...) in allen Lebensbereichen zu bekämpfen; (...) Zu den diesbezüglichen Maßnahmen gehören: die Aufforderung an alle Medienorgane, Menschen mit Behinderungen in einer dem Zweck dieses Übereinkommens entsprechenden Weise darzustellen.
In Österreich passiert das noch viel zu selten, kritisiert der SLIÖ, es fehle oftmals Untertitelung oder Übersetzung in Gebärdensprache. Barrierefreie Programme sehen anders aus.
Kritik gibt es auch an Charity-Sendungen und -Events, die oft als entwürdigend oder paternalisierend wahrgenommen werden. Und, so sagt SLIÖ-Obfrau Feuerstein, neben dem Bild des "Hascherls", das durch solche Events fortgeschrieben wird, wird auch der Staat aus seiner Verantwortung genommen:
"Wenn der Sozialstaat seine Verantwortung an Wohltätigkeitsvereine abgibt, wird der Sozialabbau nur weiter beschleunigt. Ich habe schon erlebt, dass ein Rollstuhl durch Spendengelder finanziert werden muss, weil die Betroffenen mit ihren berechtigten Forderungen von den öffentlichen Stellen vertröstet und an Licht ins Dunkel verwiesen worden sind. Österreich muss hier seinen Verpflichtungen nachkommen. Schließlich geht es nicht um Almosen, sondern um Menschenrechte."
FM4 unterstützt heuer im Rahmen von Licht ins Dunkel den Verein reiz in Vorarlberg, der selbst Teil der Selbstbestimmt Leben Initiative ist. Mit dem Erlös soll ein Bereitschaftsdienst für Persönliche Assistenz eingerichtet werden.
Dass dies eine gewisse Diskrepanz mit sich bringt, ist uns in der Redaktion bewusst. Unsere Berichterstattung soll allerdings vorrangig zu mehr Aufmerksamkeit für die Notwendigkeit einer gesetzlichen Verankerung der Persönlichen Assistenz in Österreich beitragen.