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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

25. 11. 2014 - 21:01

The daily Blumenau. Tuesday Edition, 25-11-14.

Ernährung, Literatur, Schulreform, Verzerrungen und die soziale Selektion.

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst.
Und bietet Items aus diesen Themenfeldern.

#schulpolitik #machtpolitik

Heute fordert der Schriftsteller Gerhard Roth (72) in der Kleinen Zeitung (110) mehr medialen Raum für Kinder (bis 14); in einem PS weitet er das zu behebende Manko auf die nächste Alterskohorte (bis 18) aus. Sie sollen selber zu Wort kommen, damit ein realistisches Bild entstehen möge, "ohne ideologische Verzerrungen oder Beschönigungen". Eine grundsätzlich schöne Idee; sie öffentlichkeitswirksam zu äußern wäre vielleicht vor 35 Jahren, als es keinerlei Äußerungsraum für Junge gab und Roth am Höhepunkt war, wichtiger gewesen als heute, im Zeitalter der selbstbestimmten Selbstdarstellung, die gern auch ganz ohne erwachsene Einordnungshilfe auskommt, aber bitte.

Ich will sowieso auf die ideologische Verzerrungen hinaus. Übrigens: die Kleine Zeitung ist - ebenso wie die Presse - ein Produkt der Styria, deren Führungsstab aus ehemaligen Managern von Raiffeisen, Unilever, hiesigen Versicherungsbetrieben, regionaler Industrie, aber auch einem Priester und einem auf ausgeklügelte Treuhand-Konstruktionen und verschwiegene Privatstiftungen spezialisierten Advokaten besteht. Stifter ist der Katholische Medien Verein, unter der Leitung von aktiven Kirchenmännern.

Teil 1: Fett ist erblich, also ist Ernährungslehre unnötig

Heute ist mir auch eine seltsame Aussendung untergekommen: eine erfreute Zitiersammlung aus "aktuellen Studien aus Polen und Portugal, die den daraus hervorgehenden Nicht-Zusammenhang zwischen Fettleibigkeit, schlechter Ernährung und fehlender sportlicher Betätigung bei Kindern abfeiert. Dass weder Studien noch Schlüsse Substanz haben, wird schon auf Seite 1 klar. Zitat: "bei Kindern, die keinerlei Sport trieben, konnte keine statistische Wahrscheinlichkeit für Fettleibigkeit errechnet werden – der Grund: in den no sports-Gruppen gab es weder adipöse Mädchen noch Jungen."

Der Autor, Uwe Knop, Verfasser populärwissenschaftlicher Essensberatungsbücher und wichtiger Lobbyist der Fleischfresser-Fraktion im Krieg der Welten der im Ernährungs-Berater-Business herrscht, greift auf den Sarrazin-Schmäh zurück: Fettleibige Eltern haben häufiger fettleibige Kinder; also sind die Gene schuld. Und eben nicht die - aus sozialen Zwängen quasi tradierte - schlechte Ernährung in den Unterschichten.

Die Lehre der Knopisten: iss was du willst, was dir dein Körper ansagt. Alles Gerede von gesundem Essen ist Unsinn, Ernährungswissenschaft ist nur für Kranke (der gesunde Körper braucht's nichts) Ernährungserziehung oder die tägliche Turnstunde völlig überflüssig. Die dahinterstehende Lobby der Lebensmittelproduzenten, die mit Zucker, Fett und Fleisch Geld machen, wird mit dieser Strategie nicht mehr Menschen überzeugen als die, die Knop anspricht: die eher älteren, die den ganzen modernen Blödsinn immer schon abgelehnt hatten, die früher-war-alles-besser-Nörgler.

Die, die's in erster Linie betrifft, die zur billigen und schlechten Ernährung gezwungene Unterschicht, bekommt die Debatte eh nicht (oder als nerviges Ding) mit. Auf ihrem Rücken werden die Geschäfte gemacht. Soziale Selektion als Business-Modell.

Teil 2: Die Textsorte statt einer Axt fürs gefrorene Meer

In der Österreich-Zeit war diese Woche das Bildungssystem Cover-Thema. Mit Schule, Uni, Integrations-Problematik und Dorfer-Kolumne. Im Interview mit dem Begabungsforscher Grabner wird die Sarrazin-Frage auch behandelt. Differenziert; samt genetischem Einfluss und zu erwerbender Expertise. Weil der Mensch halt ein Hybrid ist. Mit vielen Anlagen rausgeschickt, die in einer förderungsfreundlichen Umgebung rausgekitzelt werden können. Wobei soziales Umfeld und Bildung der Eltern eine große Rolle spielen.

Da ist mir die Debatte von vor einem Monat eingefallen, als bekannt wurde, dass nur mehr eines von sechs Matura-Themen in Deutsch ein literarisches ist, während sich der Siegeszug von Textsorten wie dem "Leserbrief" oder der "Empfehlung" unaufhaltsam scheint. In der hat sich die sonst in Bildungsfragen schnell auf den Plan tretende unmandatierte Bildungsbürger-Vertretung erstaunlich zurückgehalten - der Protest kam vorerst von den Betroffenen, was immer ein schlechtes Zeichen ist und auf ein recht schnelles Aus für den bisher gewohnten Literatur-Aspekt im Deutsch-Unterricht bedeutet.

Da ich aber davon ausgehe, dass es das Lesen ist, das den Menschen erst zum Schreiben bringt, steht es schlecht um die künftige Textsorten-Praxis, die alsbald auf einer Basis stattfinden wird müssen, in - auch durch den öden alten Kanon, bis zur Bibel hin abgesichertes - kollektives Wissen um Redewendungen und Zitate gar nicht mehr gedeihen wird können. Und ebenso wie die Bibel etwa der Schlüssel fürs Verständnis praktisch aller abendländischen Literatur ist, ist er mittlerweile auch Schlüssel fürs Verständnis praktisch jeder TV-Serie, die das Level von Grey's Anatomy auch nur hauchzart übersteigt. Für Goethe oder Shakespeare und den Tatort oder auch nur Cop Stories gilt dasselbe. Jeder popkulturell geäußerte Zwischenton hat literarische Ursprünge.

Was auch hier - als Absicht jener die diese Entwicklungen kanalisieren und instrumentalisieren - dahintersteht: soziale Segregation. Die Haushalte, in denen Literatur (solange sie Grisham oder Follett übersteigt egal welcher Art) präsent ist, können die Interpretations-Kompetenz (und es muss nicht gleich in der Unerbittlichkeit des überschriebenen Kafka-Zitats sein) weitergeben. Die anderen vererben neben ihrer ungesunden Lebensführung auch die bewusstlose Analyse-Inkompetenz.

Diejenigen, die Literatur aus dem Unterricht rausnehmen und somit einer ganzen sozialen Kohorte an Jugend den einzigen Zugang zu diesen Welten nehmen wollen, staffeln die zukünftige Gesellschaft also nach sozial-vererbten Schichten, nach Kasten. Und das in Österreich, dem EU-Land, in dem die soziale Herkunft immer noch der zentrale Indikator für höhere Bildung ist.

Teil 3: Die Gesamtschule der Industriellen-Vereinigung

Der vorige Woche zur Überraschung vieler, vor allem der strukturkonservativen Kreise innerhalb der eigenen Partei unternommene Vorstoß der Industriellen-Vereinigung in Sachen Schulreform & Gesamtschule, vor allem via Hausmedium hat nicht nur als Axt den gefrorenen Weiher der heimischen Bildungsreform-Debatte aufgehauen - er wirft naturgemäß auch medial ungestellte Fragen auf. In allererster Linie die, worauf er gesellschaftspolitisch abzielt.

Die IV ist nämlich vieles, auch Mäzen, aber kein Samariter, dem das Ideal eines Wohlfahrtstaates mit Chancengleichheit für alle die Thesen diktiert. Sie will die bestmöglichen Arbeitsmarkt-Vorausetzungen für ihre Profitmaximierung. Sie wird einen Vorschlag für das künftige Bildungs-Modell der 5 bis 14jährigen mit denselben ganz grundsätzlichen Leitlinien versehen wie die von ihren europäisch organisierten Pressure-Groups erreichte Bologna-Reformierung des EU-Uni-Modells.

Am Papier zeigt das Konzept keine Berührungsängste mit der Welt außerhalb des sehr wirtschaftsfreundlichen, rein ausbildungsorientierten Kernbereichs, in den die IV die Universitäten gerne zwängt. Es ist sogar offensiv von ganzheitlichen Persönlichkeiten, die heranzubilden wären, die Rede. Und selbst dass Bildung in Österreich immer noch sozial vererbt, gesteht man offensiv ein. Klassische humanistische Bereiche fehlen allerdings; der Begriff Literatur kommt auf den 32 Seiten gar nicht vor.

Zuerst sollen "Grundkompetenzen in den Kulturtechniken" erlernt, dann der "Ausbau von Allgemeinbildung und Fachkenntnissen" vorangetrieben und schließlich "Ausbildungs- und Berufswegorientierung" im Zentrum stehen. Davon den grundsätzlich versorgten jungen Menschen irgendwann Tools in die Hand zu geben, die sie über den Ausbildungs- und Berufsweg hinaus dazu befähigen, als zoon politikon oder gar als citoyen aufzutreten, steht nicht wirklich auf der Agenda. Auch der Begriff der politischen Bildung findet im IV-Text keinen strg-f-Treffer. Auch das bleibt wieder den sozialen Einflüssen außerhalb des Bildungssystems überlassen, also den Familien und dem sozialen Milieu, denen/dem der Einzelne entstammt.

Die Verstärkung der altbekannten Tatsache einer in Europa führenden sozialen Vererbung von Nicht-Bildung, das bewusste Verdrängen von Anker-Angeboten, die Schüler aus der Alltags-Agonie rausreißen können, die Verantwortungsabladung auf Elternschultern, deren verantwortlungslose Unverantwortlichkeit man kennt (weil man sie herbeigeführt hat) - all das ist bewusste soziale Selektion. Die nur durch dramatische ideologische Verzerrungen als Verbesserungs-Angebot verkauft werden kann.