Erstellt am: 26. 11. 2014 - 17:15 Uhr
Es hat sich etwas verändert
In Mexiko hat sich etwas verändert, seit ich zuletzt im Land war. Etwas, das schwer zu fassen ist und sich unglaublich tief in die mexikanische Gesellschaft hineingefressen zu haben scheint. Egal, wo man hinsieht: Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit.
Als ich Mexiko im Herbst 2011 verließ und nach Österreich zurückkehrte, wirkte die Bevölkerung entschlossen. Die Mexikaner schienen aus einer Schockstarre zu erwachen und begannen, in Massen auf die Straßen zu gehen, um gegen den Drogenkrieg zu demonstrieren, der Schätzungen zufolge seit 2006 bis zu 150.000 Todesopfer gefordert hatte. Es entstanden zivile Protestbewegungen, die eine neue Stärke zu besitzen schienen, so dass ich mich sogar dazu entschloss, meine Diplomarbeit darüber zu schreiben. Doch jetzt, drei Jahre später, scheint alles anders.
© Hanna Silbermayr
Die Protestbewegungen aus den Jahren 2011 und 2012 flauten mit der fortschreitenden Präsidentschaft Peña Nietos ab. Die zuvor noch lauten Stimmen verstummten immer mehr. Doch dann, am 26. September diesen Jahres, sollte etwas passieren, das die mexikanische Bevölkerung erneut auf die Straßen trieb: Die Massenentführung von Ayotzinapa.
Der Fall Ayotzinapa
Was an diesem Tag in Iguala im Bundesstaat Guerrero genau passierte, lässt sich nur schwer nachzeichnen. Fest steht: An diesem Freitagabend eröffneten Polizeikräfte Feuer auf drei Busse, in denen sich Studenten der Escuela Normal Rural Raúl Isidro Burgos, einer Hochschule zur Ausbildung von Grundschullehrern in ärmeren Landesteilen, befanden. Diese hatten offenbar zuvor die Busse in ihre Gewalt gebracht, um damit in die 200 Kilometer entfernte Hauptstadt zu einer Gedenkveranstaltung an das Massaker von Tlateloco zu fahren.
Im Kugelhagel starben sechs Personen, 27 weitere wurden verletzt. Jene Studenten, die es nicht rechtzeitig schafften, zu fliehen, wurden von der Polizei auf Pick-Ups verfrachtet und weggebracht. Ab diesem Zeitpunkt verläuft sich die Spur der 43 Normalistas, wie die Stundenten der Escuela Normal Rural genannt werden. Darüber, was mit ihnen geschehen ist, kann nur spekuliert werden.
© Hanna Silbermayr
Am darauffolgenden Tag wurden unzählige Polizisten der lokalen Stadtpolizei sowie Mitglieder des Drogenkartells Guerreros Unidos festgenommen. Außerdem trat der Bürgermeister von Iguala von seinem Amt zurück und tauchte gemeinsam mit seiner Frau - der wiederum Verbindungen in die höchsten Kreise des Kartells nachgesagt werden - unter.
Zwei der Kartell-Mitglieder sagten schließlich aus, zumindest 17 der 43 Studenten umgebracht und in einem Massengrab verscharrt zu haben. Den Auftrag zur Ermordung gab demnach der örtliche Polizeichef - der ebenfalls untergetauchte Neffe des Bürgermeister - in Einvernehmen mit dem lokalen Drogenboss. In Folge begann eine der wohl größten Suchaktionen in der Geschichte des Bundesstaates Guerrero.
Was man dabei fand? Unzählige Massengräber, nicht aber die Körper der 43 Studenten.
© Hanna Silbermayr
Desillusioniert und machtlos
Mit dem Verschwinden der 43 Normalistas tritt zutage, was man in Mexiko eigentlich schon lange weiß: die tiefen Verstrickungen von Politik, Polizei und Drogenkartellen, die mitunter bis in die höchsten Ebenen der jeweiligen Organisation reichen. Doch selten war das so offensichtlich, der Umgang der Politik mit dem Geschehenen so perfide wie heute: seit dem 26. September hat Mexikos Präsident Peña Nieto keine Anstalten gemacht, sich klar zu dem Fall zu äußern. Erst einen Monat später traf er sich mit den Familienangehörigen der verschwundenen Studenten. Um kurz darauf nach China zu reisen, wo er Wirtschaftsverhandlungen führen will. Vielleicht ist es auch das, das die Mexikaner in Massen auf die Straße treibt.
Es sind die größten Proteste, die Mexiko seit langem gesehen hat. Vor allem die Studenten des Landes rufen zu Aktionen auf, denen viele Eltern folgen, deren Kinder im Alter der Verschwundenen sind. Die aktuellen Geschehnisse von Ayotzinapa erinnern sie zudem an das Jahr 1968, als bis zu 300 friedlich demonstrierende Studenten in Mexiko Stadt von Sicherheitskräften kaltblütig ermordet wurden.
Doch angesichts der großen Demonstrationen, die auch zwei Monate nach der Massenentführung von Ayotzinapa noch stattfinden, ist die Stimmung in der Bevölkerung zwiespältig. Über all dem Geschehenen steht nur eine Frage: Was bringt das eigentlich? Wer hört uns zu, wenn wir laut schreiend auf die Straße gehen? Hinter vorgehaltener Hand wird darüber gesprochen, dass man andere Wege finden müsse. Egal, mit wem ich in den letzten Wochen auch geredet habe: an irgendeinem Punkt der Konversationen fiel immer das Wort "Ayotzinapa" und es tritt eine tiefe Machtlosigkeit zutage. Vor allem die Jugend scheint desillusioniert.
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Failed State Mexiko
Es hat sich etwas verändert in Mexiko. Kürzlich sprach der uruguayische Präsident José Mujica in einem Interview mit dem Magazin Foreign Policy von einem "failed State" Mexiko. Von einem Staat, der den Bedürfnissen seiner Bürger nicht mehr gerecht wird und in dem das menschliche Leben weniger wert sei als das eines Hundes. Von einem Staat, der in tiefer Korruption versinkt, die schließlich Nährboden für solche Verbrechen ist.
Mitglieder des Europäischen Parlaments wandten sich in einem offenen Brief an Mexikos Präsident Peña Nieto und fordern die Aufklärung des Verbrechens. Ihnen gleich taten dies das Hochkommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte und die US-amerikanische Regierung.
Unterdessen wurden die Reste von bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Körpern - verkohlte Knochen, Zähne, Asche -, die auf einer Müllanlage nahe der Stadt Iguala sichergestellt wurden, nach Österreich an die Universität Innsbruck geschickt. Dort soll geklärt werden, ob es sich dabei um die menschlichen Überreste der 43 Normalistas handelt. Die Mexikaner trauen den eigenen Ermittlungsbehörden nicht mehr, weshalb ausländische Experten mit den DNA-Analysen betraut wurden. Denn die Angehörigen der 43 Studenten fordern Aufklärung mit Beweisen. "Bis dahin hoffen wir weiter, dass unsere Kinder am Leben sind", sagt eine Mutter. Bis es konkrete Ergebnisse gibt, können aber Wochen, wenn nicht sogar Monate vergehen.
Was bleibt, ist eine angespannte Stimmung innerhalb der mexikanischen Bevölkerung. Schon vor Monaten begannen normale Bürger, sich zum eigenen Schutz zu bewaffnen und Bürgerwehren zu organisieren, die Anfang des Jahres von der mexikanischen Regierung legalisiert wurden. Auch ich habe Menschen kennengelernt, die sich bewaffnen, da ihnen der Staat keine Sicherheit mehr garantiert.
© Hanna Silbermayr
Ein gefährliches Unterfangen für Mexikos Regierungsriege, ein wahrer Teufelskreis. Denn nachdem Demonstrationen in den Augen vieler Mexikaner auf taube Politiker-Ohren stoßen und nichts mehr zu bringen scheinen, denkt der eine oder andere inzwischen ob der Macht- und Ratlosigkeit über Alternativen nach, um das Gemisch aus Politik, Polizei und Drogenkartellen zu Fall zu bringen. Auch wenn ich noch vor einem Jahren in meiner Diplomarbeit anderes geschrieben habe und das von mexikanischen Politikern immer wieder geleugnet wird: So, wie sich Mexiko heute darstellt, befindet es sich tatsächlich auf dem Weg hin zu einem "failed State", in dem sich die Bürger letztendlich selbst um ihre Sicherheit kümmern müssen.