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Erich Möchel

Netzpolitik, Datenschutz - und Spaß am Gerät.

13. 11. 2014 - 19:00

Neuer Anlauf für EU-weites Passagierdatensystem

Der 2013 vom Parlament abgelehnte Richtlinienentwurf zur Speicherung aller Flugbewegungen europäischer Bürger wurde zur "Bekämpfung von IS-Terror" erneut vorgelegt.

Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet liegen die Pläne für ein EU-weites System zur Erfassung aller Daten von Flugpassagieren (PNR) liegen erneut auf dem Verhandlungstisch. Am Dienstag präsentierte Berichterstatter Timothy Kirkhope von der rechtskonservativen Fraktion ECR einen neuen Richtlinienentwurf im Innenausschuss (LIBE) des Parlaments. Erst im April 2013 war ein inhaltlich identischer Entwurf im LIBE in seiner Gänze abgelehnt und an die Kommission zurückgeschickt worden.

In einer ersten Reaktion zeigten sich die österreichischen Abgeordneten gegenüber ORF.at mehrheitlich ablehnend. Sowohl Michel Reimon (Grüne), Angelika Mlinar (Liberale) wie Joѕef Weidenholzer (SPE) kritisierten den gesamten Ansatz für diese geplante neue Datensammlung für Strafverfolger und Geheimdienste. Heinz Becker (EVP) forderte hingegen eine "systematische Auswertung von europäischen Fluggastdaten, um IS-Kämpfern aus der EU, anderen Terroristen und organisierten Kriminellen auf die Spur zu kommen."

Timothy Kirkhope

Europäische Union, 2014 – EP

Timothy Kirkhope, ECR

Passagierdaten gegen Kinderpornographie

Ein neuer Anlauf für eine PNR-Richtlinie sei aktuell schon deshalb notwendig, sagte Berichterstatter Kirkhope, weil sich die Lage angesichts der neuen Terrorbedrohungen gegenüber 2013 verändert habe. Zudem sei diese neue Datensammlung auch "ein wichtiges Instrument" bei der Aufklärung einer Reihe weiterer Verbrechen, die Kirkhope unter besonderer Betonung von Kinderpornographie nacheinander aufzählte, Unterstützung kam dabei nur von den Fraktionen ECR und EVP.

Ende April 2013 hatte der Innenausschuss des europäischen Parlaments die geplante PNR-Richtlinie mit 30 zu 25 Stimmen abgelehnt. Die Bruchlinien damals waren dieselben wie heute, der PNR-Antrag wurde nur von den beiden konservativen Fraktionen unterstützt.

Linie und Argumente der Konservativen haben sich dabei gegenüber 2011 kein bisschen verändert, außer dass nun die IS-Terroristen als neues Schreckgespenst strapaziert werden konnten. Die Behörden werden dabei als machtlos gegen die Flut neuer Terroristen dargestellt, weil den Strafverfolgern das notwendige Anti-Terror-Instrument, ein EU-weites Überwachungssystem für Flugbewegungen mutwillig verweigert werde. Wie schon davor schreckte man dabei auch vor kruden Analogismen nicht zurück.

Verbrecher fahren, Polizei geht zu Fuß

Heinz K. Becker

Europäische Union, 2014 – EP

Heinz Becker, EVP

"Wir können doch nicht alle Verbrecher Auto fahren und die Polizei dabei zu Fuß gehen lassen" sagte der deutsche Abgeordnete Axel Voss (EVP). Sein österreichischer Kollege Becker drückte dasselbe etwas gewählter aus: "Mit den Ermittlungsmethoden des vorvergangenen 19. Jahrhunderts werden wir Terrorismus und organisierte Kriminalität von heute, die sich sozialer Medien, moderner Kommunikation und moderner Transportwege bedienen, nicht bekämpfen können."

Aus den anderen Fraktionen wurde den Konservativen daraufhin Panikmache vorgeworfen, um dieses bereits einmal in toto mehrheitlich abgelehnte Vorhaben nun inhaltlich identisch durchzudrücken. Als Kirkhope und mehrere andere Abgeordnete dann europäischen Regulationsbedarf als Argument anführten, weil mehrere Mitgliedsstaaten bekanntlich eigene PNR-Systeme aufbauten, wurde die Stimmung ziemlich aufgeheizt. Die prominente liberale Abgeordnete Sophie in't Veld bezeichnete die Vorgangsweise der Konservativen als "schändliche Politik" und warf der abgetretenen Kommission von Juan Manuel Barroso gar "Korruption" vor.

Wildwuchs durch EU-Förderung

Angelika Mlinar

Europäische Union, 2014 – EP

Die NEOS-Abgeordnete Angelika Mlinar gehört zur liberalen ALDE-Fraktion

Dieser neuerliche Anlauf sei nämlich auf die "finanzielle Förderung von PNR-Systemen durch die EU-Kommission" zurückzuführen, sagte die Abgeordnete Mlinar zu ORF.at. Seit 2013 haben neben "Großbritannien inzwischen 14 weitere Mitgliedsstaaten entsprechende Systeme" aufgebaut, sagte Mlinar, damit bekomme das "aufgebrachte Argument für ein einheitliches System und einheitliche Regelungen natürlich überhaupt erst seinen Boden".

Tatsächlich hatte die Barroso-Kommission insgesamt 50 Millionen Euro aus ihrem Budget bereitgestellt, um nationale PNR-Systeme zu unterstützen. Diese Vorgangsweise, einzelne, voneinander abweichende, nationale Regelungen finanziell zu fördern, ist aber für die Kommission völlig ungewöhnlich, zumal ja ihre Kernaufgabe ist, auf allen Ebenen einheitliche europäische Standards zu setzen.

Im April 2011 hatte der EU-Ministerrat einen Beschluss zur Einführung eines Systems zur Erfassung von Flugpassagierdaten gefasst, der erst im Juni 2011 an die Öffentlichkeit kam. Chronik der europäischen Entwicklung bis zum Absturz 2013 in zwölf Stories.

In diesem Fall wurde die Summe nach nicht erkennbaren Kriterien und obendrein völlig ungleich aufgeteilt. Mit 17,8 Millionen Euro EU-Förderung hatte sich Frankreich den Löwenanteil an der Gesamtsumme gesichert, dahinter kommen Estland und Ungarn mit je fünf Millionen, Spanien (vier Mio.) und Lettland (3,7 Mio.). Mit 300.000 Euro, die an das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorbekämpfung gingen, wurde auch ein österreichisches PNR-System gefördert.

Screenshot

Radio FM4

Die Liste der Empfängerstaaten wurde von der britischen Bürgerrechtsorganisation Statewatch veröffentlicht.

Das sagt das Innenministerium dazu

Das ist schon deswegen erstaunlich, weil die österreichische Delegation im Ministerrat - aus dem auch dieser neue Vorstoß kam - gegen ein europäisches PNR-System gestimmt hatte. Der Sprecher des österreichischen Innenministeriums, Karl-Heinz Grundböck, konnte beides auf Anfrage von ORF.at bestätigen und hatte dafür auch eine Erklärung. "Wir haben uns diese Gelder für den Fall gesichert, dass es trotz der Ablehnung durch Österreich und anderer zu einer solchen EU-weiten Regelung kommen sollte, um diese Summe dann nicht aus dem Budget finanzieren zu müssen."

Screenshot

Radio FM4

Diese Gelder seien für einschlägige Vorarbeiten verwendet worden, so Grundböck weiter, wie etwa für "die Erstellung eines dann notwendigen Maßnahmenkatalogs" dazu wurde versucht, "die Parameter bei den Luftlinien zu lokalisieren". In Wien hatte man also bereits die Vorarbeiten gesetzt, um ein solches System aufzusetzen, denn die Vorgangsweise der Barroso-Kommission war schon damals im Ansatz erkennbar.

"Datenhamsterei, billiger Aktionismus"

Josef Weidenholzer

Europäische Union, 2014 – EP

Josef Weidenholzer, SPE

Sie hatte darauf abgezielt, das Thema erneut auf die Tagesordnung zu bringen, sobald es die äußeren Umstände erlaubten. Wenn nämlich eine neue, konkrete Terrorbedrohung den Anlass lieferte, eine einheitliche europäische Regelung zu fordern. Mit der Förderung divergierender nationaler PNR-Systeme hatte die Kommission selbst ein weiteres Argument für eine solche Regelung geschaffen: Folgerichtig warnen Becker und andere EVP-Politiker nun vor "einem Wildwuchs von 28 verschiedenen nationalen Regelungen".

Große Chronik der globalen PNR-Systeme von der ersten FuZo-Story im Februar 2003 EU-Flugdaten für die NSA bis auf das Jahr 2010.

Diese noch von der Barroso-Kommission initiierte Vorgangsweise kam bei allen anderen großen Fraktionen nicht gut an. "Diese Datenhamsterei macht Europa nicht sicherer. Ich halte nichts davon, die ganze Debatte nun erneut mit billigem Aktionismus aufzuheizen und darüber hinaus das EuGH-Urteil und europäische Grundwerte über Bord zu werfen", kritisiert Weidenholzer, Mitglied des Innenausschusses des EU-Parlaments gegenüber ORF.at.

"Verzweiflungsakt"

Nachdem der EuGH die anlasslose Speicherung aller Verkehrsdaten aus Kommunikationsnetzen als grundrechtswidrig erkannt habe, wolle die EU-Kommission nun eine Vorratsdatenspeicherung aller Daten sämtlicher Flugbewegungen europäischer Bürger einführen, sagte Weidenholzer, "gerade nach dem EuGH-Urteil solche Legislativvorhaben wie EU-PNR durchzupeitschen" sei auch symbolisch "ein Schlag ins Gesicht" des EuGH.

Michael Reimon

Europäische Union, 2014 – EP

Michel Reimon, Grüne

Für Reimon von den Grünen ist das PNR-Vorhaben "ein Verzweiflungsakt der Regierungen, damit wird Tätigkeit gegen Terror vorgegaukelt - und das auf Kosten rechtsstaatlicher Prinzipien." Tatsächlich gab es in mehr als zehn Jahren keinen einzigen konkreten Beleg für die Erfolge des US-PNR-Systems im Kampf gegen den Terrorismus. Fakten und Belege gibt es hingegen dafür, wann das Überwachungssystem nicht funktioniert hat und warum.

Tsarnaev, Tsarnayev und Zarnajew

Der wohl krasseste bekanntgewordene Fall betraf die beiden Attentäter, die 2013 selbst gemachte Sprengbomben während des Stadtmarathons in Boston zündeten. Wenigstens einer der Attentäter war vom FBI bereits 2011 als potenzieller Terrorist gelistet, dennoch flog Tamerlan Tsarnaev - dessen Name in deutschen Medien "Tamerlan Zarnajew" transkribiert wurde - ab 2011 ungeachtet aller Passagierprofile, automatischen Systemalarme bei Reisenden in Risikoregionen und "No-Fly-Lists" mehrmals in die Bürgerkriegsregion Dagestan.

Bericht dazu von ORF.at
FBI-Alarm scheiterte an Tippfehler

Tsarnaev konnte so unbehelligt aus- und wieder einreisen, weil ihn die russische Aeroflot mit einer anderen Transkription seines Namens aus dem kyrillischen Alphabet als "Tsarnayev" führte. Namen aus dem arabischen Sprachraum werden ebenso praktisch nie nach einem einheitlichen Muster in lateinische Buchstaben transkribiert. Das gesamte PNR-System hat also einen grundlegenden Fehler im Design, weil es gerade dort, wo der islamistisch geprägte Terrorismus herkommt, am schlechtesten bis gar nicht funktioniert.

Wie es weitergeht

"Tatsache ist, dass Terrorverdächtige nicht von heute auf morgen entstehen, sondern in ihrer Entwicklung" auffielen, im Normalfall den Behörden bereits bekannt seien und gezielt überwacht werden könnten, sagte Reimon dazu. Weil es die Regierungen nicht geschafft hätten, hier zu einer zufriedenstellenden Kooperation zu kommen, würden nun alle EU-Bürger de facto zu Verdächtigen erklärt.

Am selben Tag, als der Abgeordnete Kirkhope, ein Parteigänger der britischen Konservativen David Camerons, diesen neuen Entwurf für eine Richtlinie der Europäischen Union präsentierte, kündigte die britische Regierung insgesamt 98 Verträge und Vereinbarungen vor allem aus dem Justizbereich mit der Europäischen Union.
Der neue Richtlinienentwurf wird am 3. Dezember erneut im Innenausschuss behandelt werden.