Erstellt am: 12. 11. 2014 - 12:34 Uhr
Eine Begegnung mit Neil Gaiman
"Die Feenwelt ist ja nicht so meins", erklärt mir die literarisch beflissene Kollegin, als ich ihr von meiner Begegnung mit Neil Gaiman erzähle, und ich gebe zu, noch bis vor wenigen Monaten habe ich ähnlich gedacht.
Neil Gaiman war Ende Oktober in Wien, um seinen aktuellen Roman vorzustellen. Ausschnitte aus der Buchpräsentation werden heute Abend in einer FM4 Homebase Spezial gespielt.
Mit Fantasy bin ich abseits von Herr der Ringe und Game of Thrones bisher eher zufällig in Berührung gekommen, und wirklich ernst genommen habe ich das Genre auch nie. Doch seit ich dieses Frühjahr The Ocean at the End of the Lane aufgeschlagen habe, den aktuell letzten Roman eines Autors, den ich zuvor bloß als strubbelhaarigen Ehemann von Amanda Palmer wahrgenommen hatte, ist alles anders.
Ich habe dieses Buch verschlungen und dann gleich noch eins, noch eins und noch eins.
Barbara Köppel
Hier ist eine Übersicht über Neil Gaimans Werk von Markus Keuschnigg.
Neil Gaimans literarisches Universum ist bevölkert von Mythen- und Fabelwesen. In den Sandman-Comics herrscht die allegorische Figur Morpheus über die Traumwelt, in Stardust trachtet eine Hexe einem gefallenen Stern nach dem Leben und in The Graveyard Book zieht eine Schar Geister und anderer Zwischenwesen einen kleinen Jungen auf.
Die Helden seiner Erzählungen stolpern dabei oft ganz unversehens in diese Parallelwelten, leben zunächst einen eher unspektakulären Alltag und sind im Verlauf der Geschichten stets selbst am meisten verwundert, wie ihnen geschieht. Genau diese Perspektive ist es, mit der Gaiman seine LeserInnen einfängt und über die er mehr Wahrheiten über die Realität ans Licht bringt als viele Sachbücher und Tatsachenromane.
Gebrüder Grimm reloaded
Als routinierter Geschichtenerzähler hat Neil Gaiman schon immer Versatzstücke aus Märchen und Sagen in sein Werk eingebaut. In den letzten Monaten war er nun damit beschäftigt, einige der mehr als 200 Jahre alten Erzählungen der Brüder Grimm neu zu interpretieren.
Chris Riddell
In The Sleeper and the Spindle zum Beispiel macht sich ein von Häuslichkeit gelangweiltes Schneewittchen auf, um das schlafende Dornröschen aus dem rosenumrankten Schloss zu befreien. In der zentralen Szene, illustriert von Chris Riddell, küsst eine Märchenprinzessin die andere. Dies hat in den ersten Rezensionen zum Konsens geführt, Gaiman wolle mit dieser Graphic Novel eine Lanze für Feminismus und LGBT-Rechte schlagen. Das ist grundsätzlich nicht falsch, allerdings möchte der Autor selbst gar keine so große Sache aus dem Kuss machen:
"The Sleeper and the Spindle is definitely not a lesbian love story. I suppose it's feminist in the sense that it's filled with powerful, smart women doing big important things and butting heads. But everybody's making a fuzz about the fact that you get a princess kissed by a queen. There's no rule that says who has to kiss the princess. The only rule is she will be woken by a kiss."
Neil Gaiman hat am Montag seinen 54. Geburtstag gefeiert und beschenkt seine Fans mit Gratis-Audiobooks, Online-Lektüre und Videos von Lesungen.
Für seine Interpretation von Hänsel und Gretel (mit Zeichnungen von Lorenzo Mattotti) erhielt Neil Gaiman gar die Kritiken seines Lebens. Dabei habe er einfach versucht, möglichst nah an die Urfassung des Märchens heranzukommen. Die Erzählung der ausgesetzten Kinder ist für ihn eine Flüchtlingsgeschichte, in der es um den Verlust von Heimat und Hunger geht und darum, sich in größter Not allein durchzuschlagen.
Geschichten der Flucht
Beeinflusst wurde diese Auslegung zuletzt auch von Gaimans Besuchen in zwei syrischen Flüchtlingscamps in Jordanien. Im Mai dieses Jahres hat das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR den Schriftsteller dazu eingeladen, weil er aus Interesse und Engagement viele Tweets der Organisation geteilt hatte und sich gezeigt hatte, dass seine Fans - @neilhimself hat mehr als zwei Millionen Follower - in dieser Angelegenheit sehr aktiv sind.
Zurückgekehrt ist er mit wahren Geschichten von Tod und Gewalt, von verspeisten Hunden und Katzen, auf der Flucht zerschlissenen Schuhen, aber auch von dem unbändigen menschlichen Willen trotz allem weiterzumachen: Es gibt auch in Flüchtlingscamps einen Verleih für Hochzeitskleider.
Der Poet und der Rockstar
Neil und Amanda setzen sich mit einem Open Letter für den Erhalt von kleinen Indie-Bookstores ein.
Wie es Neil Gaiman und Amanda Palmer neben all den Projekten in ihren busy lives auch noch schaffen, eine gute Ehe zu führen, bleibt ein Mysterium. Der sanfte Poet und der kompromisslose Rockstar sind derzeit allerdings das romantischste und kreativste Paar der Indieszene.
Manfred Werner
Amanda Palmer
Amanda Palmers Buch "The Art of Asking or How I Learned to Stop Worrying and Let People Help" ist gestern erschienen.
Sie schreiben einander Gedichte, treten gemeinsam auf und ergänzen sich in jeder Hinsicht künstlerisch perfekt. So haben wir zum Beispiel Neil Gaimans letzten Bestseller seiner Sehnsucht nach Amanda Palmer zu verdanken. Denn während sie 2012 an ihrem dritten Soloalbum Theatre Is Evil in Melbourne, Australien gearbeitet hat, hat er sie ganz fürchterlich vermisst. Was eine Liebeserklärung in Form einer Kurzgeschichte hätte werden sollen, hat sich unversehens zu einem vollständigen Roman ausgewachsen.
Amanda Palmer selbst hat inzwischen auch einen Ausflug in die Schriftstellerei gemacht. Ihr Buch The Art of Asking or How I Learned to Stop Worrying and Let People Help ist gestern erschienen und mit einer pompösen Straßenparade in Palmers Heimatstadt Boston gefeiert worden.
Ausgangspunkt für das Buch ist ihr 2013 gehaltener Ted-Talk, in dem sie ihre legendäre Crowdfunding-Kampagne beschreibt - der bisher größten in der Social- Media-Geschichte überhaupt - und wie diese die Beziehung zu ihren Fans und ihr Privatleben beeinflusst hat.
Über all diese Dinge habe ich mit Neil Gaiman gesprochen. Hier ist mein Interview mit ihm als kleiner Vorgeschmack auf die heutige Homebase Spezial (19-22 Uhr) und im Anschluss auch für sieben Tage unter fm4.orf.at/7tage zum Anhören.
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