Erstellt am: 8. 11. 2014 - 11:48 Uhr
Interstellar Overdrive
Bevor es hier um die Gegenwart und auch ein wenig um die Vergangenheit des Kinos geht, möchte ich von dessen Zukunft berichten. Einen Hauch davon durfte ich letzte Woche in London erfühlen, im Rahmen einer ziemlich einzigartigen Erfahrung.
Mit dem noch unverdautem Frühstück im Magen werden wir - eine internationale Journalistenabordnung, die wegen Christopher Nolans Film „Interstellar“ in die britische Metropole geflogen wurde - in ein IMAX-Kino gefahren. Dort angekommen, wartet in einem Raum ein fetter Ledersessel, links und rechts stehen junge Damen, die einem eine überdimensionale Brille aufsetzen und Kopfhörer dazu. Einen Knopfdruck später befinde ich mich an Bord jenes Raumschiffs, mit dem die Crew im Film ins All aufbricht.
Die Oculus Rift Experience raubt meiner Wenigkeit, als jemandem, der zwar das Kino liebt, aber Achterbahnen ebenso pingelig meidet wie Computerspiele, komplett den Atem. Nach einer Minute in dem perfekt animierten Kontrollraum und an zerkratzten Fenstern mit Blicken auf die Unendlichkeit vorbeischwebend, signalisiert mir nur mehr weiter hinten in meinem Kopf eine Stimme, dass ich in Wahrheit bloß auf einem schnöden, irdischen Stuhl sitze. Als die Schwerelosigkeit einsetzt und ich mich an die klaustrophoben Bedingungen gewöhnt habe, will ich nur noch tiefer in die Schwärze eindringen. Dann ist der Zauber aber auch schon wieder vorbei.
Paramount Pictures/IMAX
Back To The Future
Im Gespräch danach versichern Vertreter von Filmverleih und IMAX-Kette, dass die immensen Kosten derartige kurze, virtuelle Rides zur extravaganten Ausnahme machen. Ich glaube kein Wort davon. Das Militär und die Pornoindustrie, die zentralen Zweige hinter jeglichem Fortschritt im Entertainmentbereich, werden komplett auf ähnliche Technologien setzen. Wenn die - auch Skeptiker wie mich vollends überzeugende - virtuelle Magie die Massentauglichkeit, die Wohnungen und vor allem Kinderzimmer erreicht hat, verändert sich unsere Welt. Oder zumindest die westliche Hemisphäre. Und zwar auf eine Weise, die man derzeit nur vage erahnen kann.
Fast schon altmodisch mutet im Vergleich zum Blick in die hyperreale Unterhaltungs-Zukunft der Film an, der die IMAX-Experience inspirierte. Christopher Nolan, der Grenzgänger zwischen feinsinniger Cineasten-Sensibilität und brachialem Blockbuster-Getöse und erklärter Feind der digitalen Revolution, hat „Interstellar“ mit 35mm und sogar 70mm Filmmaterial gedreht.
Dazu kommt ein Maximum an echt gebauten Sets, aufwändigsten Kulissen und analogen Tricks. Die Schauspieler verbrachten viel Zeit im selben Raumkreuzer, in dem ich virtuell cruisen durfte, konnten dabei aber alles wirklich angreifen. Statt Green-Screens und nachträglichen CGI-Hintergründen wurde das animierte Weltall vor die Sichtfenster projiziert. Mehr Oldschool-Fundamentalismus ist im gegenwärtigen Hollywood nicht denkbar.
Warner
Die Hoffnung liegt im All
Dieser Gegensatz zwischen der Ambition, das Science-Fiction-Genre mit „Interstellar“ auf ein neues, spektakuläres Level zu hieven und gleichzeitig der großen Vergangenheit des Kinos zu huldigen, ist in gewisser Weise auch in die Story des Films eingeschrieben. Bodenständigkeit und Futurismus, das sind Pole zwischen denen sich die Erzählung ebenso bewegt wie zwischen Rationalität und spirituellen Zugängen.
Dabei möchte ich die Geschichte nur grob umreißen, stopfen doch die Drehbuchautor Jonathan Nolan und sein Bruder Christopher ihre Plots bekanntermaßen mit Twists und Wendungen voll. Jedenfalls finden wir uns am Anfang von „Interstellar“ in einer nahen Zukunft wieder, in der eine Klimakatastrophe apokalyptischen Ausmaßes droht. Auf einer Farm im amerikanischen Mittelwesten schützen sich Witwer Cooper (Matthew McConaughey) und seine beiden Kinder notdürftig vor tobenden Staubstürmen. Dabei hat der ehemalige NASA-Testpilot das Träumen nicht verlernt. Leidenschaftlich steckt er seine kleine Tochter Murph (Mackenzie Foy) mit seinen Monologen über den menschlichen Entdeckungsgeist an.
Coopers innere Stimme wird erhört, aber um einen gewaltigen Preis. Als Teil einer hochgeheimen Mission, initiert vom Wissenschaftsgenie Prof. Brand (Michael Caine), bricht er bald darauf ins All auf, um neue Besiedelungsorte für die verlorenen Erdenbürger zu suchen. Murph und ihren Bruder muss der Astronaut dabei zurücklassen. Die Aussicht, durch ein mysteriöses Wurmloch gigantische Distanzen zu überbrücken, heißt auch: Selbst bei einem eventuellen Wiedersehen sind die Kinder, wenn man der Relativitätstheorie Glauben schenkt, inzwischen massiv gealtert.
Warner
Analoger Bilderrausch und sakraler Soundtrack
Ich bin während der beinahe dreistündigen Laufzeit des Films hin- und hergerissen. Es gibt Momente in „Interstellar“, da wirkt der gigantomanische Aufwand der Dreharbeiten mehr als gerechtfertigt, weil man eben nicht auf Szenarien von der Festplatte starrt, sondern meint, die Raumschiffoberflächen, schroffen Planetenumgebungen und auch die verstaubten Böden auf der Farm wirklich berühren zu können. Und das ganz ohne die von Nolan gehassten 3D-Effekte.
Wenn dann aber die Crew, zu der auch Anne Hathaway und Wes Bentley gehören, das Wurmloch erreicht hat und klar wird, dass Christopher Nolan tatsächlich zu fremden Sternen aufbrechen will, dann stocken die künstlerischen Triebwerke. Denn angepeilten Planeten Kubrick erreicht er ebenso wenig wie das Solaris-Sonnensystem. Den hinter all der Wissenschaft und Philosophie, die Nolan ins Spiel bringt, schimmert durch, dass die Erstfassung des Drehbuchs noch für die alte Kitschtante Steven Spielberg geschrieben wurde.
Aber wenn „Interstellar“ auch kein „2001“ für neue Generationen geworden ist, was übrig bleibt, ist nicht wenig. Neben den erwähnten Setbauten und dem analogen Bilderrausch gehört dazu auch ein hypnotischer, fast sakraler Soundtrack von Hans Zimmer, der auf Kirchenorgeln statt Synthesizer setzt. Die nachhaltige Wirkung verdankt sich auch den Schauspielern, die sich der langwierigen Reise ins Nolan-All unterworfen haben. Allen voran Matthew McConaughey, der seine Mutation vom RomCom-Gockel zum eindringlichsten Star Hollywoods fortführt, und Cooper genau die nötige fiebrige Unruhe verleiht. Manchmal meint man sogar kurz den TV-„True-Detective“ Rust Cohle gespenstisch aufblitzen zu sehen.
Warner
Pathos und Ernüchterung
Die Newcomerin Mackenzie Foy (dis-)harmoniert glänzend mit ihrem Filmvater McConaughey. Anne Hathaway, die jetzt nicht gerade zu meinen Lieblingsdarstellerinnen gehört, wirkt als zweifelnde Wissenschaftlerin durchaus souverän. Aber vor allem kleinere Auftritte, wie jene von Michael Caine, der schon zu den Langzeit-Kollaborateuren von Christopher Nolan zählt, bleiben in Erinnerung. Auch Casey Affleck, John Lithgow und Stars, die ganz unerwartet aus dem Nichts tauchen, brillieren. Und natürlich ist die auf wenige, aber umso eindringlichere Sequenzen beschränkte Präsenz von Jessica Chastain ein Gewinn für den Film.
Demächst in diesem Theater hier: Interviews mit Matthew McConaughey und Jessica Chastain in Bild und Ton.
Letztlich ist es aber die pathetische Ernsthaftigkeit, mit der der Film sein übergroßes Thema von unser aller Platz im Universum angeht, die mich trotz ernüchternder Plattheiten im Skript erwischt. Noch jetzt, während ich diesen Text tippe, verfolgen mich manche Augenblicke an Bord der Endurance oder auf der Cooper-Farm.
Warner
Während die eine Hälfte des zeitgenössischen Science-Fiction-Kinos sich den comichaften Weltraum-Operetten verschrieben hat und die andere der düsteren Dystopie huldigt, besetzt „Interstellar“ einen Platz abseits beider Varianten. Christopher Nolan hat einen Film für alle ewig kindlichen Träumer gemacht, deren Gedanken auf Reisen gehen, wenn sie auf Nachthimmel starren. „We used to look up at the sky and wonder at our place in the stars“, sagt Cooper. „Interstellar“ kokettiert mit Physik und Metaphysik, aber vor allem geht es um das wichtigste aller menschlichen Verlangen: die Sehnsucht.