Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Der Fluch der Sandalen"

Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

5. 11. 2014 - 14:44

Der Fluch der Sandalen

Ich erinnere mich nicht genau an der Fall der Berliner Mauer. Ich war damals nur drei Jahre alt. Aber ich erinnere mich an meine Sandalen, die mir damals die Mauer erklärten.

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharovs. Jeden Mittwoch in FM4 Connected (15-19h) und als Podcast.

"Die Leiden des jungen Todor"
Das Buch mit den gesammelten Kolumnen gibt es ab sofort im FM4 Shop.

1987 fuhren meine Eltern in die DDR. Das war kein Besuch im „Westen“, aber sie waren wirklich sehr froh. Sie waren das erste mal außerhalb Bulgariens. Sie sahen eine andere Welt. Sie gingen ins Thater, besuchten das „Pergamon“-Museum und bestiegen den Fernsehturm. Laut ihren Erzählungen war der Fernsehturm in Ostberlin die größte Sehenswürdigkeit in der DDR. Nur weil man von dort Westberlin sehen konnte. Und dieser erträumte „Westen“ war nur einen Schritt entfernt. So nah, aber doch unerreichbar. Aber das Einkaufen im „Zentrum“ war möglich. Meine Eltern kauften mir Sandalen. Und es waren keine gewöhnliche Sandalen, sondern „Salamander“.

Ich erinnere mich perfekt an die Sandalen. Meine Sandalen aus der DDR, hergestellt aber in der BRD, waren das Hauptgesprächsthema im Kindergarten. Die ersten Worte von allen, die mich ansahen waren nicht „Ah so ein schönes Kind!“, sondern „Ah so schöne Sandalen!“. Für eine Weile nahm ich das Interesse an meinen Sandalen mit Gelassenheit. Mit der Zeit aber war ich beleidigt, dass die Menschen mehr auf meine Sandalen achten als auf meine Persönlichkeit.

Sandalen

CC-BY-2.0 - flickr.com/athrasher

Morgens wollte ich sie dann irgendwann nicht anziehen. Meine Mutter war verwundert „Aber das sind doch die schönsten Sandalen in ganz Bulgarien! Niemand hat solche!“ Sie verstand es nicht, dass ich kein Zubehör zu meinen Sandalen sein will. Trotzdem zog sie mir die Sandalen an und schickte mich in den Kindergarten. Dort herrschte eine sich immer wieder wiederholende Hysterie. Die anderen Kinder hassten mich. Wenn sie von ihren Müttern abgeholt werden sollten, schauten die Mütter zuerst auf meine Sandalen, anstatt ihre Kinder zu umarmen. Die Eltern der anderen Kindern hassten hingegen meine Eltern, weil sie mir „westliche“ Sandalen gekauft hatten, die sie ihren Kinder nicht kaufen konnten.

Ich versuchte mit allen Mitteln, aus dem Schatten der Sandalen herauzukommen. Ich lernte zum Beispiel Gedichte auswendig. Ganze Lyrikbänder sogar. Als Ergebnis hörte ich nur: „Das Kind mit den gelben Sandalen deklamiert das Gedicht aber schön. Von wo es wohl die schönen Sandale hat?“

Ich hasste die Sandalen, die aus der „freien Welt“ kamen. Als sie endlich zu klein für mich wurden, steckten meine Eltern sie fürsorglich in den Schuhkasten. Nach einigen Monaten sollte mein Bruder auf der Welt sein und er sollte die „schönsten Sandalen in Bulgarien“ erben. Ich wollte ihn vom Fluch der Sandalen „aus dem Westen“ befreien. Ich nahm sie heimlich aus dem Kasten und urinierte auf sie. Danach stellte ich sie wieder im Kasten. Als meine Eltern die Sandalen mit großen Feierlichkeiten meinem Bruder geben wollten, stanken sie fürchterlich nach Pisse und waren fast zerfallen

Meine Eltern waren traurig, aber nicht lang. Bald danach gab es solche gelben Sandalen in allen Geschäften. Die Mauer war weg.