Erstellt am: 3. 11. 2014 - 12:03 Uhr
Vlog 6: Fantasten gewinnen
Der November beginnt und mit einem Mal ist der Nebel da. In der Nacht wirken die Straßen fast so, als hätte sich das Gartenbaukino nach außen gekehrt: die bunten Lichter vom Kino spielen mit dem Nebel und die Schatten der Ringstraße lassen den Film noir weiter träumen. Es ist wirklich das beste Kinowetter, das man sich wünschen könnte.
Wasserfall der Gefühle
Viennale
Bewusst geschwind und leidenschaftlich ist Dominik Grafs Film “Die geliebten Schwestern” - ein ununterbrochenes Rauschen von Emotionen. Dominik Grafs Stil ist “künstlich”, aber ich würde das eher im Sinn von “kunstvoll” interpretieren: Bilder überlagern einander, die Darsteller sprechen Briefe mit Blick in die Kamera “wie Skype-Gespräche” (so der Regisseur). Ich liebe, wie der Film die Geschichte oder die Biographie zu einer eigenen Erzählung macht. Er erträumt und dramatisiert, wo es angebracht ist. Sofort ist man als Zuschauer auf der Seite des Films, als Mit-Träumer von einer sehr schönen Sache; man kann nun bequem und gelassen dieses berauschende Liebesleben beobachten, besonders reizvoll in seinem historischen Dekor, umgeben von all diesen inspirierten Gedanken - besonders wenn es sich bei den Liebenden um zwei Schwestern und einen jungen Mann handelt. Ständig sehen wir Liebkosungen und Gefühlsregungen, das Zucken von Händen und Augen. Fast wünsche ich mir, der Film würde noch weiter ins Abstruse gehen und vielleicht ein bisschen ins Inzestuöse, aber da ist der Film wieder zu subtil.
Dazwischen tosen die Boten der französischen Revolution, die Ambivalenz zwischen dem Vorgenommenen und den Idealen - und dann die daraus resultierende Eskalation.
Historienfilme unterscheiden sich kaum von fantastischen Filmen: das Gesehene ist fern, aber verständlich (ich würde sagen: umso verständlicher). Hier sieht man, finde ich, auch eine positive Entwicklung dieser heutigen Epoche und das erfreuliche Resultat der angewandten “Gender Studies”: schön, einen Film über das Liebesleben zweier sehr verschiedener junger Schwestern zu sehen, die beschließen, sich einen Dichter zu teilen.
Deutsche (Kino-)Geschichten.
Entschuldigung, dass ich das jetzt mit dem () gemacht habe, das finde ich normalerweise unerträglich. Aber es geht tatsächlich nicht anders, Christian Petzolds neuen Film “Phoenix” (ein Drehbuchcredit geht an Harun Farocki!) zu beschreiben.
Viennale
Der Film eröffnet mit dem schleichenden Gefühl eines Genrefilms: Nachkriegszeit, zwei Frauen an einer Grenzkontrolle, das Gesicht der einen Frau ist hinter weißen Verbänden versteckt. Ein amerikanischer Soldat fordert auf, ihr Gesicht zu sehen. “Sie kommt aus den Lagern,” sagt die andere Frau, und die beiden dürfen passieren. Allerlei Intrigen sind möglich: legen die beiden Frauen den Soldaten herein? Oder handelt es sich tatsächlich um eine Frau, die ihr Gesicht verloren hat, so, wie im Kultfilm “Les yeux sans visage” (1960) von Georges Franju? Was geht hier vor? Es ist tatsächlich Letzteres. Der Überlebenden wird eine Gesichts-OP angeboten, wie will sie ausschauen? “Lilian Harvey, vielleicht? Das ist jetzt wohl nicht mehr in Mode.”
Die Überlebende ohne Gesicht, Sängerin Nelly Lenz (Nina Hoss), will aber ihr eigenes Gesicht rekonstruieren lassen. Zurück von den Toten ist sie die einzige Erbin des Familienvermögens. Lene Winter (Nina Kunzendorf) rät ihr, das Erbe anzunehmen und nach Palästina zu ziehen. Das kümmert Nelly weniger - sie ist besessen von dem Gedanken, ihren Mann Johnny (Ronald Zehrfeld) wieder zu finden. Derselbe Johnny, so wird ihr beigebracht, der sie einst an die Nazis verraten hatte. Johnny jedoch erkennt Nelly selbst nicht wieder - er erkennt nur ihre verblüffende Ähnlichkeit mit Nelly und engagiert sie für seinen Plan, an Nellys Erbe zu kommen; dafür muss sich Nelly aber “in Nelly” verwandeln. Gehen, Schreiben, alles wird geübt, inszeniert - wie im Kino, obwohl im Film selbst kein Kino vorkommt. Das Kino ist eben so real wie das Leben, und wir lassen in unseren eigenen Leben immer und immer wieder das Kino spielen.
Viennale
Die Auflösung des Plots selbst ist genau das, was man “filmisch” nennen könnte. Das, was kommt, könnte man nicht anders als in der Filmsprache erzählen. So viel dreht sich um Stimmen und um Gesichter, die eigentlichen Leinwände des Kinos: Nina Hoss, die nicht ausschauen soll wie Nina Hoss, nähert sich an ihr altes Gesicht an, das wiederum (in Nellys früherem Leben) ein Vorbild in Hedy Lamarr fand.
Den ganzen Film lang halte ich den Atem an, vor Freude und Schrecken und besonders: der Freude am Schrecken.
Vor dem Kino bin ich noch kurz am Dritte Mann Museum vorbeigeeilt, einem der wirklich kostbaren Orte Wiens. Mitten im Vierten Bezirk hausen dort unvorstellbar viele Dokumente aus der Zeit- und Filmgeschichte, die ausschließlich mit dem Filmklassiker "The Third Man" (1949) und seiner Epoche zu tun haben.
Danach ist es lustig, in “Phoenix” zu sitzen und zu beobachten, wie der Film die Kinogeschichte bereist - heraus aus dem Horror von “Les yeux sans visage” (denn wie sonst ist es angebracht, eine KZ-Überlebende darzustellen?) gleitet der Film in den "Dritten Mann", mit seinen Trümmerhaufen und Schattenspielen, dann weiter in das Theatermilieu der französischen Zweiter-Weltkriegsfilme der 80er wie "Le dernier métro" (1982) oder "La passante de Sans Souci" (1982), dann noch mal weiter zu Hitchcock und "Vertigo" (1958), und nochmal, oder vielleicht bilde ich es mir ein, in die nähere Gegenwart zu Paul Verhoevens "Black Book" (2006).
Die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts im Film ist ein altes Thema in der neueren Geschichte des deutschen Kinos. Es könnte schon wieder ein eigenes Genre darstellen, eines mit einer Spaltung und der Frage, was angebracht ist und was nicht. Schon Jacques Rivette hat sich total über die Sentimentalität von “Kapò” (1960), einem frühen italienisch-französischen KZ-Film, aufgeregt.
Ähnlich wie in "Clouds of Sils Maria" werden zwei Frauen in "Phoenix" zu Vertreterinnen der verschiedenen filmischen Herangehensweisen: Lene Winter und Nelly Lenz (man beobachte die Namen) - Nelly als Protagonistin lässt sich auf ein Spiel ein, eine Wiederaneignung des Ichs als Fremde, während Lene Winter - die Frau, die Nelly als Ratgeberin beiseite steht - immer mehr in ihre Obsession mit Fakten und der Vergangenheit verschwindet, bis sie regelrecht erlischt.
Abgelaufene Träume
Viennale
Aus lauter Liebe für "Phoenix" überspringe ich "20,000 Days on Earth" bei Nacht und gehe am Vormittag. Da ist es auch noch neblig und das Gemüt schwer. Nick Cave fährt mit dem Auto, seine berühmten Kollegen fahren mit. Es wird diskutiert über Ruhm, Kreativität, all diese Sachen die inspirierend sind und irgendwie nervig zugleich - und Gottseidank sagt dann Nick Cave eh von sich selbst, er sei ein von sich selbst überzeugtes Arschloch. Super! Auch die Musik und die Küchenszenen usw., seine selbstverliebte Romantik. “Wäre es nicht wunderbar, Nick Cave zu sein?” fragt uns der Film heimlich, in all den Momenten, in denen Nick Cave umwerfend schöne Dinge sagt. Aber: insgeheim sind wir eh alle Nick Cave, bestehen alle aus der Sammlung unserer Erinnerungen, Fantasien und Unterwassermonster.
Viennale
Mein erster Besuch im winzigen Erich Pleskowsaal des Metrokinos ist für das 16mm Programm “Oden an eine untergegangene Welt” von Bruce Baillie. Hauptsächlich eine Beschäftigung mit dem zerbrochenen amerikanischen Traum und all dem, was mit ihm zerbrochen ist. In “Mass for the Dakota Sioux” z.B. herrscht eine nicht ganz eindeutige Andacht für verschiedene Stämme und Landschaften, die von den Weißen katastrophal angeeignet wurden. Die Landschaft verflüchtigt sich, die Filme Bruce Baillies erwecken Sehnsucht und eine unangebrachte Melancholie, die sich nicht abschütteln lässt.
Scharf wie vergiftete Zwetschkenmarmelade
Ich liebe das Gartenbaukinofoyer wenn es leer ist. Vor allem diskutieren hier die Mitarbeiter, ob sich unter den Festivalfilmen ein Oscar-Anwärter befindet. Zwischen Hintergrundgeräuschen fallen auch Titel wie “What We Do in the Shadows” und der Name des Überraschungsfilms ("Foxcatcher"? War’s gut?), den ich versäumt hab, weil ich anscheinend keine Überraschungen mag.
Viennale
Als sich dann die Menschen für “La Chambre bleue” versammeln, habe ich den Eindruck, überall Romanisten zu sehen. Super, ein Film von Mathieu Amalric. In den USA steht auf den euphorischen Filmlakaten Scharf wie eine Guillotine. Da hat wohl wer die schnellen Schnitte gut beobachtet! Ansonsten schläfert mich das ständige Blau des Films leider etwas ein. Es gibt ein paar sehr schöne Aufnahmen von nackten Hintern und eine besonders schöne von einem feuchten Schoß, so auf “L’origine du monde”. Der Rest zieht unbemerkt an mir vorbei, ich kaue in Gedanken noch immer am Petzoldfilm herum. Draußen auf der Straße, bei der dankbaren “Tschik danach”, sagt J. im vorbeigehen: “Jo, Tatort halt.” Er hat sich wegen Petzold gerade wieder "Vertigo" angeschaut, der Gute. Und das war’s auch schon wieder. Als Apéritif zum Blauen Zimmer würde ich absolut “Les noces rouges” (1973) von Claude Chabrol empfehlen, in dem Stéphane Audran und Michel Piccoli sich gegenseitig praktisch aufessen. Das ist wahre Leidenschaft.
Viennale
Nach "La Chambre bleue", zur Auflockerung sozusagen, noch schnell den Sion Sono “Jigoku de naze warui? / Why don’t you play in hell?” Super! Das Publikum jubelt mit. Wieder ein Film, in dem es um das Kinomachen geht, Kinogötter angebetet werden und die Fetzen fliegen. Blut fließt literweise, irgendwann ist es sogar regenbogenfarben. So verrückt und sprunghaft erzählt, könnte man bei diesem Film egal wo einsteigen, er würde immer mitreißen. Nur hoffentlich versäumt man dann diesen einen entscheidenden Moment nicht, indem der eine Yakuza-Anführer ruft: “Wir sind der Realismus, die sind die Fantasten... wir werden verlieren.”
Als nächstes taumel’ ich zu zu Duke of Burgundy, auf den ich mehr als nur gespannt bin. Und danach Listen Up Philip. Vielleicht sogar Pasolini. Mich freut’s, freut’s euch auch?