Erstellt am: 3. 11. 2014 - 20:30 Uhr
Drüben und Drüben
"Drüben" ist die Welt schlechter. So viel steht fest. Und fest steht auch, dass die eigene Welt großartig und voller Abenteuer ist.
Morgens muss Jochen Schmidt immer erst sein Bett hochklappen, damit er im engen Kinderzimmer zum Fenster durchkommt und die Vorhänge aufziehen kann. Während David Wagner in seinem leuchtend gelb gestrichenen Zimmer auf seinem Bett wie auf einem Trampolin springt.
"Drüben und Drüben. Zwei Deutsche Kindheiten." nennen die beiden Autoren ihr gemeinsames Werk, das von zwei Seiten gelesen werden kann: von der West- und von der Ostsicht. Beide Kindheiten trennt eine doppelseitige Abbildung der Mauer.
Rowohlt Verlag
Von ihren Kinderzimmern aus erobern sie die Welt: Jochen Schmidt in einem Plattenbau-Neubauviertel in Ostberlin und David Wagner in einem großen Haus in Andernach am Rhein, in der Nähe von Bonn.
Vom "Kinderzimmer" führen die beiden ihre Erinnerungen über das "Wohnzimmer" zur "Küche".
Raum für Raum vergrößern sie ihre Kindheitserinnerungen. Wenn man von einem Kind spreche, müsse man im Kinderzimmer beginnen und sich dann durch die Wohnung zum Nachbarn auf verschiedene Wege zur Schule begeben, erklärt Jochen Schmidt. Eben genau so, wie sich der Horizont des Kindes erweitert. Und sie wollten auch an den Dingen bleiben, die für Kinder wichtig sind. Möbelstücke, Spielsachen, Süßigkeiten, Krimskrams.
Susanne Schleyer
Mit Objekten seien viele Erinnerungen eng verknüpft, erklärt Jochen Schmidt. Er habe etwa vor kurzem seine Briefmarkensammlung wieder entdeckt und viele prächtige Marken von seinem russischen Brieffreund gefunden. Beim Durchblättern seien sofort Bilder aus seiner Kindheit aufgestiegen. Komisch, fast gespenstisch, wie das Gedächtnis funktioniere. "Aber auch toll, weil es sind auch so proustsche Momente. Denn das Glück des Wiederentdeckens geht ja nur, wenn man es vergessen hat." Diese Gegenstände hätten noch eine eigene Magie.
David Wagner und Jochen Schmidt beobachten Kleinigkeiten genau, ohne dabei in eine Wickie, Slime und Piper-Tradition abzudriften. Wichtig war den beiden, die Perspektive als Kind bzw. Jugendlicher beizubehalten – ohne spätere Interpretationen oder Verklärungen.
So beschreiben sie witzig und klug auch ihre damalige Weltsicht, ihre Ängste, Träume und Sehnsüchte.
Denn die Kindheit wird man nicht los, schreibt David Wagner: "Ich habe diese Kindheit immer dabei, aus ihr komme ich nicht heraus. Alles, was war, schleppe ich mit mir herum, die Erinnerungen an Neubauten, an den Wunsch, im Zelt zu übernachten, an Trafokästen, Kaugummiautomaten und Zäune, an ausziehbare, blassgrau gemusterte Küchentische (…) und meinen Betrug bei der Jugendschwimmerprüfung: Statt der vorgeschriebenen zwanzig Bahnen schwamm ich zwei weniger. Keiner hat’s bemerkt, aber ich erinnere mich daran."
Österreich war meine DDR
Überraschend waren für die beiden aber weniger die Unterschiede in ihrer Kindheit, als vielmehr die vielen Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten mit den Eltern, älteren Geschwistern oder anderen Kindern.
Während Jochen Schmidt im Fernsehen die westliche Welt "drüben" immer wieder vorgeführt bekam, war der Osten für David Wagner relativ fremd. "Die Erfahrung, dass es da so einen anderen deutschen Staat gibt, der DDR heißt. Ganz konkret hatte ich die nicht Die DDR kam bei uns in Westdeutschland ja gar nicht vor. Ich hab ja auch nie DDR-Fernsehen geschaut. Der Osten war nie so präsent, wie der Westen für Jochen präsent war."
Susanne Schleyer
Die Erfahrung, dass alles ein bisschen anders sein kann, hatte er immer im Sommer in Österreich bei seiner Großmutter. Es sei ja ganz interessant als Kind eine Differenzerfahrung zu haben. Dass Dinge anders heißen können, dass man ein bisschen anders sprechen könne. Er habe das genossen.
"Ich will damit nicht sagen, dass Österreich meine DDR war, aber es war schon immer auch ein anders Land – das war immer ganz erholsam. Da konnte man das eigene auch wieder anders anschauen." Lacht David Wagner.
Klassenfahrt
David Wagner erinnert sich an einen Lehrer, der immer wieder von der Wiedervereinigung redete und an die Klassenfahrt in die DDR, den "traurigen Osten". "Im Nachhinein kann ich sagen, die Agonie dieses Landes hat man da schon gespürt. (...) Aber war natürlich eine Erfahrung, die ich auf keinen Fall missen möchte.“
Und eine Erfahrung, die ihm Jochen Schmidt neidisch ist. Zu gerne hätte er den dargebotenen Osten gesehen.
"Das wäre gut, wenn es heute noch möglich wäre, stundenweise zwischen diesen Welten zu wechseln. Das hätte eine große pädagogische Wirkung, glaub ich."
Mauerfall
In ihrem gemeinsamen Buch "Drüben und Drüben. Zwei deutsche Kindheiten" beschreiben Jochen Schmidt und David Wagner im letzten – und jeweils kürzesten - Kapitel den 9. November 1989. Den Tag, als die Mauer fiel. David Wagner: "Das Wichtigste war, es war ein Donnerstag und Donnerstag war Indietag in der Disko, in die wir damals immer gingen. Am Tag danach schrieben wir eine Lateinarbeit, die letzte Lateinarbeit, ich war schon in der 13. Klasse. Das war's. Dazwischen rein platze die Nachricht 'Die Mauer ist gefallen'. Äh. Ja. Interessant. Hat man dann im Fernsehen gesehen. Hat einen auch ein bisschen gerührt – aber eigentlich war das sehr weit weg."
Für Jochen Schmidt war der 9. November 1989 ein besonderer Tag – sein 19. Geburtstag. Er war die erste Woche in der Armee,
"Ich wurde von der Kompanie mit einem dreifachen 'Hurra' zu meinem Geburtstag beglückwünscht und erwiderte den Gruß vorschriftsmäßig mit 'Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik.'"
Gefeiert wurde nicht,.
"Wir haben wie jeden Tag Exerzieren geübt für die Vereidigung. Dann hatten wir Nachtwache, so Feuerwache und mussten alle zwei Stunden raus und durch das Objekt laufen. Ich war todmüde und erst am nächsten Morgen hat jemand gesagt 'Die Mauer ist auf.' Also total verschlafen. Fernsehen gab's auch nicht – ich hab dann per Post Neues darüber gehört."
Ein paar Stunden Schlaf wären ihm lieber gewesen, beendet er im Buch knapp die Erinnerungen an den Mauerfall.
dpa/A2955 Wolfgang Kumm
Wenn er heute Bilder vom Mauerfall sehe, sei er einerseits immer gerührt, andererseits stelle er fest, wie fremd einem die Menschen geworden sind, erklärt Jochen Schmidt. "Ich überleg dann immer: Wer sind jetzt die Westdeutschen, wer die Ostdeutschen? Der Unterschied verschwamm mit der Zeit – Beide sehen im Nachhinein ziemlich komisch angezogen aus." Damals habe man auf 100m gerochen, wer vom Osten bzw. Westen ist.
Erinnerungen sind subjektiv und konstruiert. Wahrscheinlich würden selbst ihre Geschwister vieles anders erzählen. Aber schließlich sei das kein Sachbuch, sondern Prosa, erklärt David Wagner. Und Jochen Schmidt ergänzt das ideale Ziel des Buches: Dass jede Leserin und jeder Leser seine Kindheit selbst entdecken soll – und ihre oder "seine Version soll in ihm aufsteigen wie aus einem Sumpf. Das ist eigentlich das Beste, was das Buch leisten kann."