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Sophie Strohmeier Philadelphia

Film, Film, Film

1. 11. 2014 - 12:30

Vlog #5: Geistertage

Halloween zieht an uns vorbei. Oder: ein Tag Feel Good, ein Tag Feel Bad.

Vlog

Sophie Strohmeiers
Viennaletagebuch

Die aktuell brennendste Frage ans Ouija-Brett: wann kommen endlich die Geister des alten Metrokinos, um sich für diese dahingerotzte neue Deko zu rächen? Ich meine das ernst. Wien soll nicht Zürich werden! Sogar das Zürcher Podiumkino ist tausendmal hübscher als dieses rätselhafte Bodenweiß, auf dem jeder Fußabdruck zu sehen ist, und der Staubrammel, der zwischen Wand und Teppich herumpickt, könnte auch charmanter sein.
Das alte Metrokino war uns allen so lieb. Darin träumten wir von Schnitzler und Erich von Stroheim, von einem Wien, das es niemals gab, und somit von der schönsten Stadt der Welt...
Ich versteh nicht ganz, wie all das mit einem mal verschwunden sein kann. Mit solch grantelnden Fragen, durch die ich meine österreichische Identität ausdrücke, beschäftige ich mich, während ich auf "Plemya" warte, Film des ukrainischen Regisseurs Myroslav Slaboshpytskiy.

"Rebel Without a Cause" als Stummfilm?

Filmstill UFO Distribution

UFO Distribution

Das Gespräch bleibt ungehört: "Plemya"

Bei "West Side Story" (1961) findet Gewalt durch Tanz und Musik ihre vielleicht geeignetste Ausdrucksform. So ähnlich ist "Plemya/The Tribe" ein Ballet, deren erstickende Brutalität umso einschneidender ist, gerade weil sie stumm ist. Es gibt keine Filmmusik und keine Stimmen. Kommuniziert wird ausschließlich mit dem Körper und in Gebärdensprachen. Die Kamera bleibt distant - anfangs so fern, dass Gesichtsausdrücke gerade noch wahrzunehmen sind - sie eilt ihren jungen Protagonisten hinterher wie eine ohnmächtige Aufsichtsperson. Ein junger Mann kommt in ein Jugendheim, offensichtlich für Taubstumme, und sucht Anhalt bei einer Gruppe gleichaltriger junger Männer. Handzeichen, Lippenbewegungen, Körperhaltungen wirken perfekt komponiert. Bei einer Art Initiationsritual zu Beginn des Films wirkt eine Schlägerei tatsächlich wie ein Tanz. Die jungen Hauptdarsteller haben eine unglaubliche körperliche Präsenz, ihre Gewalt- und Liebesakte sind erschlagend und schön zugleich. Im zweiten Drittel des Films kommt es aber zu einem Bruch, womit die Magie des Films verschwindet - in Milieustudie und, in einer besonders haarsträubenden Abtreibungsszene, dann doch Sozialporno. Ich will den Film nicht "Feel Bad"-Movie nennen, dafür hatte er zuviel Energie. Trotzdem irgendwie schade.

Im Anschluss eile ich aus der Kälte des Metrokinosaals und rein in die Wärme des Fordkinos. Ford ist einfach das gute Bad zu dem Häferlkaffee mit einem Schuss Rum.

Das Patriarchat leibt und lebt - aber wir haben Anne Bancroft!

Filmstill 7 Women

MGM

Anne Bancroft als John Wayne: "7 Women", dessen Cinemascope und Technicolor in diesem Still nicht ganz zur Geltung kommt.

"7 Women" ist für mich eine Wahnsinnsentdeckung. Warum habe ich noch nie davon gehört? Warum wird dieser Film nicht ständig bei Retrospektiven mit Filmen zu, sagen wir, Kolonialismus und Feminismus gespielt?
Einfach großartig: die Rolle, die John Wayne normalerweise spielt, wird hier von keiner anderen eingenommen als Anne Bancroft; Whiskey-trinkend und viril, ohne Revolver, dafür mit Cowboyhut und dem egoistischen, heldenhaften Gehabe der Recht-Schaffenden.
Das Setting ist mysteriös, fast fantastisch, aber dennoch nicht so ohne politischem Zündstoff: eine Missionarsgesellschaft in China, 1930 (Black Narcissus lässt grüßen!). Anne Bancroft ist der einzige Arzt weit und breit. Erst bricht die Cholera aus, dann wird die Festung, in der ausschließlich Frauen und christlich-chinesische Familien verweilen, vom mongolischen Banditen "Tunga Khan" bedroht. Wie immer schafft es Ford, unzählige Geschichten in die Handlung einfließen zu lassen: von Britisch/U.S.-amerikanischen Kulturunterschieden, von Kolonialmacht und Unterdrückung, von Frauenleben, Lebensentwürfen, von der Jugend und dem Alter.

Es kommt mir besonders bezeichnend vor, dass gewisse Plotelemente auch bei John Hustons Tennessee Williams-Verfilmung "Night of the Iguana" (1964) vorkommen - das bedrohlich fremde Setting zum Beispiel, und das Verzehren einer älteren Frau nach Sue Lyon (besser bekannt als Kubricks "Lolita"). Obwohl ich "Night of the Iguana" auch total super finde, gefällt mir Fords Behandlung dieses Stoffs besser: anstatt z.B. einen Mann als die Stimme der Vernunft herbeizuführen, teilt Ford jeder Frau eine Portion Würde, Hoffnung oder Tragödie zu. Der Film endet wie ein Gänsehaut induzierender Opernstoff, mit der Selbstaufopferung Anne Bancrofts für die anderen Frauen. Großes Kino.

Beiläufige Seancen

Im Vorhinein gesagt: ich liebe Woody Allen-Filme noch immer und bin mir freilich bewusst, dass ich damit zu einer aussterbenden Gattung gehöre. Für mich haben sie etwas Beruhigendes - sie kommen jahrein, jahraus, manchmal besser, manchmal schlechter; aber immer treffen sie meine Vorstellung des guten Humors und meistens haben sie ein besseres Drehbuch als so manch anderer Film des Kinojahres. Wie bei "Birdman" am Abend davor birst das Gartenbaukino aus allen Nähten. Warum überhaupt einen Woody Allen-Film bei der Viennale anschauen? Das ist schon fast eine anarchistische Tat. Ich sitze zwischen Freundesclans, die alle natürlich verschiedene Meinungen zu Woody Allen-Filmen haben. Zitate werden ausgetauscht, es wird gezankt, manchmal reißt es mich und ich möchte mitreden, da ich, offenbar als einziger Woody Allen-Fan meines Freundeskreises, alleine in der Vorstellung sitze.

Filmstill Magic in the Moonlight

Viennale

Bezaubernd, jawohl: Emma Stone in "Magic in the Moonlight"

Auch "Magic in the Moonlight" hat für mich dieses angenehme Gefühl, ein "good movie experience", wie mein Grandpa es nennt. Ich finde den Film lustig und Emma Stone bezaubernd. Sie hat so riesige Augen, die stehen so weit auseinander, und so hübsche Zähne und so hübsche Haare! Alles ist schön, alles ist gut. Am Ende spielt es noch "ein’ Jazz" und ich bleib noch ein Weilchen im Sessel sitzen.

Das Zombiedasein als ultimativer Akt der Nachhaltigkeit

Widerstand gegen den neuen Gesundheitsfaschismus und Krokodiltränen-Öko-Aktivismus bringt Joe Dantes "Burying the Ex". Noch dazu ist Vorabend meines Lieblingsfeiertages Halloween, der heuer bei mir ausfällt; dies ist mein Ersatzprogramm. Hier steht eine Exfreundin von den Toten auf, um ihrem Geliebten kein Nachleben zu ermöglichen. Das lustige daran, unter anderem: die Filmprotagonisten existieren in Räumen, die von Kult und Fetisch geprägt sind. So gibt es z.B. ein Geschäft namens "Bloody Mary", das Gruselobjekte und Reliquien aus Kultfilmen verkauft, oder ein Eisgeschäft namens "I Scream", das ausgestorbenes Cereals anbietet. Die Guten haben eine Seele, weil sie Nerds sind. Die seelenlose Antagonistin aber arbeitet bei einer Art Umweltschutz-App und beharrt auf Grün, vegane Ernährung und Recycling.

Filmstill Burying the Ex

Viennale

Filmnerds verbringen ein "Traumdate": die lieben Protagonisten von "Burying the Ex"

Das ist keine Kritik am Umweltschutz per se, sondern an dem scheinheiligen Getue der Großunternehmen. Dantes Welt ist total überdreht aber durchaus zeitgenössisch. Ein ideales Date in diesem Film voller "Fantum" ist z.B. eine Projektion von "Night of the Living Dead" (1968) in einem Friedhof. "They’re coming to get you!" rufen sich die Liebenden zu, so, wie es eben sein soll.
Joe Dante tut Hipster-tum und das leichtfertige Aufgreifen von Subkulturen und Labels, das schnelle Aufstellen von "originellen" Businesskonzepten nicht als lächerliche Phänomene ab. Vielmehr lässt er sich darauf ein, als wäre dies eine Welt, die so vertraut und gegeben ist, wie die U.S.-amerikanische Vorstadt-Idylle im Horrorfilm der vorigen Generationen. Das, und nichts anderes, ist unsere (westliche) Welt von heute, sagt uns Dante. Es ist gruslig-schön, das eigene Zeitalter in einem so seltsamen Idyllenzustand verkörpert zu sehen, ohne dass die Augen vor dem wirklichen Grauen (der Reinheit, der Unlust, dem Desinteresse) geschlossen werden.

Feel Terrible Movies

Am Halloweentag, dem schönsten im Jahr, gehe ich in den Dokumentarfilm "12 dicembere". Auch ein unheimliches Dokument auf seine Art. Nicht nur weil das Filmmaterial teils so gespenstisch verblasst ist, dass man die Titel nicht ganz lesen kann - der Film ist beherrscht von einer Paranoiastimmung, von Andeutungen, wissenden Blicken. Da fallen einem die italienischen Filme ein, die bei der Thrillerpolitik-Retrospektive vom Filmmuseum im Jänner 2014 gezeigt wurden, wo sich schauderhafte politische Realität in Genre-Filmen niederschlägt. Im Nachmittagslicht schütteln wir uns die Gänsehaut vom Rücken, eine Gruppe Freunde strömt dazu, alle wollen es sich jetzt richtig geben: einen dänischen Film, den Olaf Möller empfohlen hat.

Filmstill 12 dicembere

Viennale

Gespenstische Eindrücke der kommunistischen Arbeiterbewegung in Italien: "12 dicembere"

Ich gehe mit, obwohl ich lieber schreiben sollte. Im Kinosaal beutelt es mich noch vor Lachen: "Sorg og Glaede" heißt der Film, "Sorrow and Joy" - das klingt wie ein Woody Allen-Film, der sich über dänische Filme lustig macht! Und dann beginnt der Film auch noch mit einer Aufnahme von nassem Schnee.
Freilich höre ich bald auf zu lachen. Der Regisseur ist anwesend, der Film ist ein Kapitel seiner Autobiographie.
Am liebsten würde ich die tragischen Details des Plots gar nicht bekannt geben - eine Frau tötet ihr neun Monate altes Kind in einer Psychose, der Film spannt einen Kreis um diese Tat - weil ich nicht genau weiß, wie ich von ihnen schreiben soll. Sagen wir es so: Olaf Möller kündigt zu Beginn des Films an, dies sei kein "Feel Good"-Film.
"Aber es ist ein kathartischer Film", fügt der Regisseur hinzu. In der Tat fühle ich mich während des Films so mies, dass ich mir einen Cronenberg-Film in Gedanken herbeihole, als Katharsis sozusagen:

Still aus David Cronenbergs The Brood

New World Pictures

So schrecklich dieses Bild sein mag: viel schrecklicher als das, was in "Sorg og Glaede" passiert, ist es auch wieder nicht

"The Brood" erzählt die Geschichte einer Mutter, die ihre Wut wortwörtlich gebiert, in Form von kleinen Bestien, die alle ihre Liebsten bedrohen. "The Brood" und "Sorg og Glaede" haben noch andere Gemeinsamkeiten, auf die ich hier nicht eingehen werde. Zum Schluss des Films wieder ein Auftritt des Regisseurs, dessen traurigstes Lebenskapitel gerade über die Leinwand geheult war. Ein Film für den melancholischen 1.11., gesehen am 31.10.

Abra Kadabra - Mao Tse-Tung - Che Guevara

Filmstill Adieu au langage

Viennale

"Ah dieux oh langage": ein Lobgesang an die kommunizierende Welt, vielleicht?

Gottseidank kommt danach der Godard "Adieu au langage", in - was sonst! - 3-D, ein Feuerwerk aus hunderten Eindrücken zugleich, wo in der Ferne erblickte Zeitungsartikel (in der Hand hält der eine Typ dieses Interview mit Emmanuelle Riva!) genau so viel oder so wenig Gewicht haben wie Worte, die geäußert und verspielt werden, oder Schriften, die im Hintergrund stehen, oder der Anblick von Laub, oder das Wälzen eines Hundes in knallgrünem Gras. Das überforderte Auge wird zu einer eigenen kleinen Kamera, steuert herum, fokussiert, stellt scharf. Der liebe P. zitiert nachher Die Simpsons: "Ich werde mir nie wieder die Augen waschen!"

Morgen denke ich über Godard nach und schaue das deutsche Doppelprogramm, zuerst Graf, dann Petzold. Ob das auch so eine Achterbahnfahrt wird?

Filmstill 7 Women

Viennale

Hier noch schnell dieses völlig überflüssige aber doch wunderschöne Still zu "7 Women". You're welcome.