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Sophie Strohmeier Philadelphia

Film, Film, Film

30. 10. 2014 - 11:24

Vlog #4: Familientheater

Vogelmenschen mit Superkräften und Menschen, die von Supermächten zu Aasgeiern gemacht werden.

Vlog

Sophie Strohmeiers
Viennaletagebuch

FM4 goes Viennale

Am Mittwoch, den 29.10. ab 19 Uhr und im Anschluss für 7 Tage im Stream

Dienstag um 6:30 gab es für mich eine Premiere: Noch nie in meiner gesamten Viennale-Biographie bin ich in den Frühstücksfilm gegangen. Das Aufstehen schmerzt, die Straßen sind windig und leer, der Himmel das schönste Blau. Rund um das Gartenbaukino strömen Menschen herbei wie Motten ins Licht. Es ist wirklich bezaubernd! Und dann noch mal: "Clouds of Sils Maria" mit Nussschnecke und Croissant. Das Kino wirkt rammelvoll.

“Nicht gerade eine gewöhnliche Stunde, ins Kino zu gehen!” brüllt die hohe Stimme eines jungen Besuchers von besonderer Beobachtungsschärfe immer wieder in die Menge, “das ist mal ganz was Neues! Ungewöhnlich, ja!”

Ehrlich gesagt, ich hätte so eine Vorstellung um 6:30 gerne öfter. Der Film gehört so mehr der Traumsphäre an und gibt Kraft für den Morgen. So wie in Paris, wo das Publikum seine Filme mit der Morgenzeitung einnimmt. Wie Juliette Binoche und Kristen Stewart sind wir jetzt im Dunkeln aufgestanden, um früh auf einen Berg zu gehen. Ein Kinotag beginnt.

Der Transgenderfilm und sein Zustand

"52 Tuesdays" von der australischen Regisseurin Sophie Hyde: So voll habe ich die Urania noch nie gesehen. Man kann kaum einen Schritt machen, ohne über einen Jansport-Rucksack zu stolpern. So ein Publikum habe ich auch noch nie gesehen, und ich komm mir vor, als wäre ich durch irgendein Wurmloch gefallen und in der Realität gelandet – entweder sind hier alle Normcore, oder es ist wirklich ein Publikum aus jungen Menschen, die einfach ins Kino gehen! Eine Wolke Nachochips-Geruch flattert um meine Nasenflügel.
“Mein Sauerkraut schmeckt einfach nie gut”, jammert eine sehr junge Frau mampfend zu meiner Seite, die Hand voller Baumstämme.
“Gibst du denn Zucker dazu?”, fragt eine andere junge Frau und rührt dabei in ihrem Chili-Dip.
“Zucker, Blütenkaramell, es wird immer bitter! Dabei mach’ ich’s genau so wie meine Mutter und meine Großmutter davor...”
Links von mir füllt eine andere junge Person Seite um Seite eines Tagebuchs mit winziger Bleistiftschrift. Sie hat wohl sehr viele Gefühle, und das noch vor einem Film wie "52 Tuesdays".

Filmstill 52 Tuesdays

Viennale

Ein Teenager als Zeuge eines geschlechumwandelnden Elternteils

Der Film beginnt; vielleicht zu voreilig ärgere ich mich, dass es sich hier schon wieder um einen “Themen”-Film handelt, zum Thema “Transgendereltern” nämlich, so wie in dieser wirklich holprigen U.S.-Serie “Transparent”. Wieder ist es ein Film mit der Aufgabe, die Menschen aufzuklären und ihnen ein bisserl mehr Identifikationsgefühl und Einfühlsamkeit für gender-queere Personen zu geben. Nicht dass ich Empathie und Respekt nicht für wichtig halte – aber das sollte doch bitte gehen, ohne dass sich die Filmgeschichte zur Zeigefinger-Aufklärung veranlasst fühlt. Anders gesagt: Geschlechtsumwandlung könnte doch auch mal ein Anlass für einen besonders verrückten Film sein, wie wir ihn noch nie gesehen haben.

Dann aber beruhige ich mich, und eine zärtliche Rührung setzt ein: Es wirkt ein bisschen so, als hätte eine 16-Jährige 52 Tuesdays geschrieben. Und dadurch, dass es in dem Film um eine 16-Jährige geht, die die Geschlechtsumwandlung ihrer Mutter wahrnimmt, die jetzt natürlich ihr Vater ist, passt das ganz schön gut. Der Film ist so irrational, notgeil, verwirrt, sexy, verwundbar und peinlich, wie es Teenager eben sind. Ich bin fast ein bisschen verliebt.

Der Dude-Film, den die Welt braucht.

Das totale Kontrastprogramm bietet "Buzzard". Mit einer Hauptfigur, die mit “Martin” (1976) von Romero einen Namen teilt und ihm auch ein wenig gleicht, und Referenzen, die von Leos Carax über Wes Craven bis zu den Simpsons wild umherspringen, ist "Buzzard" super unterhaltsam und politisch brennend aktuell.
Für Marty Jackitansky ist die ultimative Summe $2,000. Mit verschiedensten kleinen Tricks und kreativen Ideen versucht er, die Welt der großen Firmen auszutricksen: Angebote und Coupons werden dreist ausgenutzt, Schecks gefälscht, Büroware unter der Hand verscherbelt, um an Geld zu kommen; das Resultat ist natürlich erbärmlich. Selbst als gewissenloser Gauner könnte Marty es nicht annähernd mit der Schweinerei aufnehmen, die der Kapitalismus täglich anrichtet. Hier sehen wir die U.S.-Wirtschaftsmisere personifiziert durch eines ihrer Opfer, das durch sie zum Aasgeier wird. Regisseur Joel Potrykus nimmt Stellung zur kränkelnden Occupy-Bewegung in den USA, die seiner Meinung nach viel zu sehr von Menschen am Leben gehalten wurde, die sie nicht einmal verstanden haben (beim Publikumsgespräch beschreibt er sie als “... sipping their Starbucks coffees”). Obwohl Marty ein absoluter Unsympathler ist, schafft es Potrykus, dass der Zuschauer mit ihm mitfiebert und ihm Erfolg wünscht, auch wenn man ein bisschen Angst vor dieser Vorstellung hat.

Filmstill aus Buzzard: Marty isst Spaghetti

Viennale

"Can I just have a really big bowl of pasta?" Marty erlebt seinen "real deal"

Babyesser

Auch in "Kuime" ("Over Your Dead Body") - wie bereits bei "Clouds of Sils Maria" und später bei "Birdman" - proben Schauspieler ein Theaterstück. Diesmal spielt es im alten Japan. Je stärker ein Aufführungstermin angedeutet wird, umso mehr beunruhigt die Absenz eines Publikums und die “Realität” der fantastischen historischen Handlung auf der Bühne. Genau so, wie der Film mit seiner Theaterverdoppelung spielt, verbinden sich auf rätselhafte, gruselige Art zwei Frauenleben (oder sind es drei?) - im Mittelpunkt scheint der Traum von Familienleben und Nachwuchs zu stehen. Daraus gebiert sich der pure Horror. Die Theaterszenen sind großartig: Die historischen japanischen Kostüme allein lösen schon ein leichtes Schauern aus - die traditionell geschwärzten Zähne der Frauen, die saubere Ästhetik gefalteter Stoffe und üppiger, fantastischer Farben, die die dargestellte Natur zu einem fantastischen Ort machen. Dazu kommen noch furchteinflößende Puppen, Kindergeschrei und natürlich dieses lange, herabhängende Haar. Ein wunderschönes Horrormärchen.
Es bereitet mir ziemliches Unbehagen und Sorge, dass ich von der langen Filmographie des Regisseurs Takashi Miike noch kein einziges Werk gesehen habe. Gerne nehme ich Empfehlungen entgegen, nur bitte nicht “Audition”, es hat schon einen Grund, warum ich mir den nicht angeschaut hab.

Filmstill Kuime

Viennale

Märchenfarben, Albtraumhandlung: Kuime

Superbird kann doch nicht fliegen

Menschen und ihre Filmkommentare: Um mich herum werden Filme nacherzählt. Manche diese Erzählungen sind so schön, dass ich in Erwägung ziehe, die Filme selber anzuschauen - aber sind nacherzählte Filme nicht vielleicht eh die schöneren?
Empörung und Begeisterung werden ausgetauscht. Neben mir regt sich ein Paar auf, dass "Plemya" so schwer zu verstehen gewesen sei, was eine Frechheit wäre. Russische Gebärdensprache sei doch unverständlich, Untertitel seien angebracht gewesen.
Ach, Viennalepublikum! Meine Vorfreude auf "Plemya" wächst.
Eine Frau sagt einem Mann, er habe mit "Clouds of Sils Maria" rein gar nichts verpasst - die Handlung sei so seicht und vorhersehbar. Weil die beiden an meinem Tisch im Gartenbaukinocafé sitzen und nicht auf einem der vielen anderen, die im übrigen leer sind, zucke ich peinlicherweise aus meinem Stoizismus auf und belle herum, der Mann habe sehr wohl sehr viel verpasst. Anfänger! Nachher denke ich mir, oje, ich juveniles Mädchen. To each their own, gelt.

Filmstill Birdman

Viennale

Raymond Carver (siehe Plakat) als sarkastisches Zeichen von Reife und Prestige: Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance)

Mir zum Beispiel gefällt “Birdman” gar nicht so gut. Als das Publikum gleich zweimal zu Ende des Films losklatscht, kann ich nicht mitmachen. Ich bin nicht wirklich enttäuscht, nur leicht genervt. Wie die meisten Superheldenfilme der heutigen Zeit wirkt “Birdman” um eine halbe Stunde zu lang. Selbst die großartige Kamera, mit der der Film so vielversprechend losprescht, verliert irgendwann ihre Magie - immerhin ist der “one take” des Films ja auch nur eine digitale Illusion. Obwohl anfangs genial und mitreißend, wirkt er zum Schluss nur noch wie ein Gag. Zu Beginn ist "Birdman "unglaublich fesselnd. Die Bilder springen durch Gänge, wandern über und unter die Bühne und auf Dächer hinaus, dann wieder in Künstlergarderoben hinein - man fühlt sich wie in einer Grottenbahn auf Übergeschwindigkeit, wie ein hochbegabter Voyer. Der Film macht sich über affirmative Kunst lustig, die Dialoge fetzen, man fühlt sich gut aufgehoben (besonders großartig: der Monolog Emma Stones, die als Tochter des Birdmans winzige Vogel-Tätowierungen auf der Schulter trägt und deren Rolle ein bisschen an Kristen Stewart in – was sonst! – "Clouds of Sils Maria erinnert") – und wird dann wieder fallengelassen: zu viel Platz wird den gängigen Konflikten eingeräumt, zuviel wirkt wie bereits Gesehenes. Iñárritu macht genau nicht das, was Assayas macht - er ist nicht subversiv und er baut eigentlich keine große Meta-Ebene auf - und so fällt sein Kommentar zur übermenschlichen Hybris der Entertainmentindustrie, ihrer Oberflächlichkeit und Unbeständigkeit, letztendlich ziemlich platt aus.

Nun ist der Viennale-Mitte-Mittwoch erreicht, und mir ist endlich bewusst geworden, dass mein Organismus nicht mehr als zwei Filme pro Tag verträgt. Peinlich das, aber langsam haut es mich vor lauter Müdigkeit vom Rad. Morgen also: Plemya und Burying the Ex! Wüst!