Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Vlog #2: Paradies auf Erden"

Sophie Strohmeier Philadelphia

Film, Film, Film

26. 10. 2014 - 14:55

Vlog #2: Paradies auf Erden

... und Hölle auf fernen Planeten. Walisische Nostalgie, russische Schwere und das Streben nach dem Glück. Ein sentimentaler Eintrag.

Vlog

Sophie Strohmeiers Viennaletagebuch

Vielleicht ist es der große Segen der Viennale: All jene Wiener, die gerne im Dunkeln verweilen, treffen einander endlich wieder auf einem Haufen. Manchmal kommen auch neue Gesichter dazu. Das Ereignis des Filmschauens ist wieder da, und das nicht nur für die Filmmuseums-Besucher. Denn wer heute Kino liebt, der liebt es urteilslos als Film, Fernseh- oder Webserie, und das meist im privaten Raum oder auf seinem “fucking phone” (Zitat David Lynch) oder Tablet. Die Liebe zum bewegten Bild ist eine sehr, sehr einsame Liebe geworden.

Jetzt ist es eine Freude, die vielen Gesichter zu sehen – manche davon tatsächlich Freunde und Bekannte, andere einfach Gesichter, die man immer wieder sieht und annickt, ohne einander je gesprochen zu haben, außer vielleicht bei der scheuen Frage nach Feuer.

Für meine Generation ist das öffentliche Ereignis immer mehr am Verschwinden. Das verursacht bei mir diesen unangebrachten Generationenneid. Ich liebe das Ereignis und die Gemeinschaft des Kinogehens. Kinogeher als eine sich fremde Familie, Kino als Ort der gesammelten Sehnsucht. Vielleicht ist das die verbindende Note meiner ersten zwei Viennale-Tage mit 8 sehr unterschiedlichen Filmen.

Sehnsuchtsorte

Filmstill Dolares de Arena

Viennale

Tod in Venedig im Paradies: "Dólares de Arena".

Mein erster Viennalefilm, in der windgepeitschten Urania: „Dólares de Arena“, dritter Film des Regieduos Laura Amelia Guzmán und Israel Cárdenas, entführt in Bilder der dominikanischen Republik, die mit Sehnsucht gefüllt sind. Einerseits ist der für mich eine Art Vorprogramm zu „Clouds of Sils Maria“ von Olivier Assayas; andererseits erinnert mich der Plot an „Two Serious Ladies“, Novelle von Jane Bowles. Der tropische Ort hebt die Gefühle auf und wird zum Speicher einer zwischenmenschlichen Zärtlichkeit, den es nur auf dieser Insel zu geben scheint. Der Film hält sich damit zurück, zu moralisieren oder seine Figuren zu bewerten. Die fast zaghafte Herangehensweise führt zu einem eigenartigen Hybrid – Tod in Venedig gemischt mit Sozialpolitik. Dieses Hybrid spiegelt sich auch im Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen: Geraldine Chaplin scheint sich nach Dialogen mehr zu sehnen als nach ihrem Gegenüber, die junge Yanet Mojica könnte ganz ohne Wörter auskommen. Vieles bleibt im Film unausgesprochen und angedeutet; trotz meiner Liebe zur Ambivalenz fühle ich mich danach nicht ganz satt.

Die Vergangenheit als „locus idealis“ bei John Ford: „How Green Was My Valley“, „The Quiet Man“

Still How Green Was My Valley

Berlinale

Boyhood in Wales: "How Green was My Valley"

Bei meinem täglichen John Ford werden alle Kinobedürfnisse befriedigt. Mehr als diese Filme würde ich gar nicht brauchen, glaube ich. Es tut mir leid, dass diese geliebten Sachen alle miteinander uralt sind, aber ich fühle mich bei keinem lebenden Regisseur so. Ford schafft es, seinen Figuren sogar in der Badewanne und beim Biertrinken Würde zu verleihen. Er fädelt unvergessliche Anekdoten in kürzesten Zeitabschnitten in die Narration ein. Er lässt uns aus tiefstem Herzen heulen, nur um im nächsten Moment laut aufzulachen. So ein Film ist „How Green Was My Valley“ (1941). Im Rückblick erzählt er die Geschichte einer walisischen Minenarbeiter-Familie aus der Sicht eines Buben („Boyhood“ VOR Linklater sozusagen), samt einem dystopischen Ende, das beinahe an „Ivans Kindheit“ von Tarkovsky erinnert. In meiner Erinnerung war der Film länger und hatte irgendwie mehr Szenen – jetzt bei der Viennale kann ich es kaum fassen, als er aufhört. Das allein verursacht noch eine weitere Sturzflut an Tränen. Ich weine nicht viel im Leben, bei Ford dafür umso mehr.

Maureen O'Hara und John Wayne in The Quiet Man

Twentieth Century Fox

Maureen O'Hara und John Wayne haben soz. Trouble in Paradise

Besonders witzig, aber doch nicht ohne Nostalgie und Sehnsucht nach etwas Unauffindbarem, ist “The Quiet Man” (1952). John Wayne reist in sein Herkunftsland Irland, um sich dort ein kleines Cottage zu kaufen und zu heiraten (die wunderschöne Maureen O’Hara, bei deren Anblick – rotes Haar und rote Lippen, dahinter die grüne Landschaft – sich das Herz immer ein bisschen zusammenzieht). Irland ist einer der berühmten Sehnsuchtsorte der Nordamerikaner – so viele haben irische Vorfahren, und selbst Generationen später plagt sie eine Nostalgie nach der romantischen Grünen Insel. Hinzu kommt die große irische Tradition des Erzählens, die in „The Quiet Man“ sowohl im Dialog als auch visuell bedient wird. „The Quiet Man“ ist von seiner Stimmung her völlig anders als „How Green Was My Valley“: und doch liegt seine Magie in seiner Weite und im Detail, seinem Vermögen, unsere komplette Aufmerksamkeit gefangen zu halten. Vor lauter Freude muss ich auch bei „The Quiet Man“ heulen. Das ist eben einfach das Beste, was es gibt.

Erschaffung des privaten Paradieses

Still aus Bande de Filles

Viennale

Girlhood im Pariser banlieu: "Bande de Filles"

„Bande de Filles“ hat es daher schwer mit mir. Schluchzend hüpfe ich direkt nach „How Green Was My Valley“ auf mein Rad und düse ins Gartenbaukino, während die Tränenspuren meine Wangen einfrieren. Der eine Film beginnt zwei Minuten nachdem der andere endet.
Ich sitze direkt vor der Kinoleinwand und nehme zu Beginn irgendwie nur den Soundtrack wahr, den ich ziemlich großartig finde. Bald kommt eine Szene, in der vier Mädchen in einem Hotelzimmer zu „Diamonds” von Rihanna tanzen. Ich liebe dieses Lied, ich würde es am liebsten aufessen, es ist das einzige Lied auf meiner Spotify-Liste, weil ich einzig und allein nur dieses und kein anderes höre, auch wenn es ein bisschen monoton ist. Somit bin ich also sozusagen auf der Seite des Films gelandet, auch wenn mir das Milieu fremd ist – aber das ist mir das Milieu von „How Green Was My Valley“ ja auch. Celine Sciamma ist die Regisseurin von „Tomboy“ und „Naissance des pieuvres“ (großartigster Titel überhaupt) – letzterer ist mir persönlich einst unglaublich wichtig gewesen. „Bande de Filles“ ist das heute nicht – aber ich wette, für viele da draußen schon. Großartigerweise macht Sciamma KEINE herablassende Milieustudie. Viel mehr erzählt sie von der Heldenreise eines jungen weiblichen Outlaw und ihrer Mädchenbande inmitten von Ausbrüchen sinnloser Gewalt, Kämpfen mit dem Patriarchat, der Suche nach dem Selbst und der eigenen Welt und Familie. Freilich ist das nicht „Switchblade Sisters“ von Jack Hill, aber bei einer besonders brutalen Szene muss ich doch daran denken.

Dokus: Wilde Tiere, wilde Zeiten

Filmstill Ming of Harlem

Viennale

"Vom Tier zu sprechen ist Poetik" - oder so ähnlich - so Derrida: "Ming of Harlem".

Irgendwo hat man die Geschichte schon mal gehört: ein Typ hält in einem Hochhaus in Harlem einen Tiger und einen Alligatoren als Haustier. Bei „Ming of Harlem: Twenty-One Storeys in the Air” wünsche ich mir in meiner Sensationsgeilheit zum ersten Mal in meinem Leben, ein Dokumentarfilm möge doch ein wenig dokumentarischer sein. Das spricht ja eigentlich für den Film, finde ich – beginnt flott und mit dem Versprechen von Poesie. Wie wäre es, wenn Tiger und Alligator ein einziges Tier wären, frage ich mich; von Chimären begleitet, drifte ich ab in eine Traumwelt, während die Kamera gut eine halbe Stunde lang einem Tiger folgt, der sich in einem wohnungsartigen Gehege befindet. Dann ist der Alligator dran, sicher auch eine halbe Stunde. Ich träume weiter. Der ehemalige Tierbesitzer spricht von Sternen, Tigerbabys und „love, man ...” auf einem Dach in Harlem. Ich wache kurz auf und denke an diese Frau, die mit ihrem von einem Hausaffen komplett verunstalteten Gesicht bei Oprah Winfrey aufgetreten ist. Sie hatte weder Hände, noch Zunge, noch Augen. Ich nicke wieder ein, alles ist schön. Tiere, Menschen, Supermärkte in Harlem ... alles ist gut.

„Greenwich Village – Music that defined a generation” ist als Ort nur ein paar Kilometer von Harlem entfernt, spielt aber in den 1960er-Jahren und ist somit tatsächlich unerreichbar. Musikdokus dieser Art schaue ich mir allein zwecks meiner persönlichen Bildung an. Damit sollte ich aber dringend aufhören. Dokus über die 60er, gedreht von Menschen, die in den 60ern circa so alt waren wie ich jetzt bin oder jünger (in diesem Fall die energetische Regisseurin Laura Archibald), solche Dokus machen mich irgendwie nur noch wütend. Super für euch, denke ich mir, und: Kann ich das bitte auch haben!? Nicht den Krieg und die vielen Kämpfe, die Unterdrückung, usw., sondern dieses verdammte Greenwich Village! Als der Film zum Schluss den Bogen bis zur Gegenwart spannt – bis Occupy NYC – bin ich endgültig entrüstet. Cool, dass es so wirkt, als gäbe es diese Szene in Greenwich Village noch ein bisserl. Heute kann aber kein Normalsterblicher dort leben, schon allein wegen der Höhe der Mieten, und die jungen alternativen Musiker und Aussteiger meiner Generation nimmt niemand ernst, was eine Frechheit ist. Verflucht! Und trotzdem – dann singt Pete Seeger und ich drücke mir besonnen die Tränen aus den Augen.
Hier noch ein Clip von „The Weavers", mir bisher unbekannt, die diese berühmten Singer/Songwriter erheblich beeinflusste:

Die Russen und die Religion

Filmstill Leviafan

Viennale

Skelett der Ungeheuer: "Leviafan"

Zu Beginn von „Leviafan” sagt ein Anwalt zu einer Familie: „Packen wir das Monster an”. Für einen kurzen Moment wähnt man sich in einem John Carpenter-Film. Dabei ist mit dem Monster jener Leviathan von Thomas Hobbes aus dem 17. Jahrhundert gemeint, also eine Metapher für Staatsorgane und andere brutale Dinge. Gleichzeitig wird, wie auch bei Hobbes (glaube ich), der biblische Leviathan herangezogen. Ein äußerst archaisch aufgeladener Film also, mit sehr vielen Konflikten – aber auch mit einer Note unheimlicher Krimi und Familienmelodram, alles inmitten dieses geheimnisvollen, mystischen Russlands. Immer wieder tauchen großartige Szenen auf, die wie Fäuste auf einen einschlagen oder wie Wellen über einen hereinbrechen. Der Film gruselt und graust. Mir wird noch immer kalt, wenn ich daran denke.

Filmstill aus Trudno byt' bogom

Viennale

Hier ist die Hölle los: "Trudno byt' bogoms ungebändigte Barbarei"

Dann das Albtraumspektakel „Trudno byt’ bogom“ (2013) - einen Moment: Трудно быть богом -, entfesselter, über Jahre gedrehter letzter Film des mittlerweile verstorbenen Regisseurs Aleksei German. Die Handlung spielt auf einem fernen Planeten, der Erde genau gleichend, außer dass die Zivilisation 800 Jahre zurück liegt und keine Renaissance stattfinden wird (wobei ich mir da nicht sicher bin. Zu Beginn des Films konzentriere ich mich noch wild auf die kyrillischen Titel und versäume dabei ein paar wichtige Informationen).

Ein Erdling lebt dort und spielt auch noch auf einem seltsamen Instrument Jazz. Es herrscht Verfolgungsjagd auf alle Intellektuellen, und außerdem führen die „Grauen“ und die „Schwarzen” (in einem Schwarz-Weiß-Film!) gegeneinander Krieg, oder so. Allein optisch wirkt der Film tatsächlich wie eine einzige Anspielung auf Andrej Rublev von Tarkovsky – dessen Horrorversion nämlich. Drei Stunden lang ein einziges todernstes Grind-Geblödel; als wären die Figuren eines Bruegelgemäldes plötzlich lebendig geworden, um sich mit entfesselter Kreativität und Elan unvorstellbar grausam aufzuführen.

Das faszinierende Schwarzweiß lässt alles zu einer einzigen, kunstvollen Masse werden: Schlamm, Blut, Rotz, Fischgedärme, Holzscheite, abgetrennte Köpfe, Pferdescheiße. Kein einziges Dragée-Keksi wird während des Films gegessen. Mein Magen knurrt, aber ich komme einfach nicht dazu, irgendwas runterzuschlucken – in jeder Sekunde wird ein Auge ausgestochen, ein Hintern verstümmelt, ein Bauch aufgespießt, Scheiße herumgeschmiert, gespuckt, gefurzt, genagt und geflucht. Kaum ist der Film vorbei, bittet mich eine Person (deren Identität geheim bleiben muss!) hier zu erwähnen, dass der Hauptdarsteller eine unheimliche Ähnlichkeit zu Hans Hurch aufweist.

Heute der heiß ersehnte „Clouds of Sils Maria“ von Olivier Assayas! Alles danach ist unwichtig.