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Erich Möchel

Netzpolitik, Datenschutz - und Spaß am Gerät.

23. 10. 2014 - 14:53

Die neue EU-Kommіssion und die Netzneutralität

Aussagen aus Deutschland geben wenig Anlass zu Optimismus, dass der Ministerrat der von Parlament und Kommision geforderten schnellen Regelung bald zustimmt.

Eine der obersten Prioritäten der neuen EU-Kommission sei es, "das große Potenzial unseres riesigen digitalen Binnenmarkts zu entfesseln", sagte Kommisionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch vor dem Plenum des EU-Parlaments. Junckers Team wurde dort mit der erwarteten Mehrheit bestätigt, zur geplanten Entfesselung des digitalen Markts aber kommen auch weiterhin gemischte Signale aus den Mitgliedsstaaten und dem EU-Ministerrat.

Bei dem liegen seit Monaten zwei Parlamentsbeschlüsse - die neue Datenschutzverordnung und die Regelung zur Netzneutralität -, die den Rahmen für den digitalen Binnenmarkt definieren werden. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte jedoch die Frage der Netzneutralität - Gleichbehandlung aller Datendienste - am Dienstag für derzeit nicht existent erklärt. Ebenso hatte der zuständige neue EU-Kommissar Günther Öttinger bei den Hearings klare Aussagen dazu vermieden. Einzig Vizepräsident Andrus Ansip, der die digitalen Aktivitäten aller Kommissare koordinieren wird, hatte sich im Vorfeld explizit für eine schnelle Verabschiedung dieses Gleichbehandlungsprinzips im Netz ausgesprochen.

Seit fünf Jahren auf dem Tisch

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Für den künftigen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und seine 27 Kommissare stimmten am Mittwoch in Straßburg 423 Abgeordnete, 209 votierten mit Nein und 67 enthielten sich. Damit kann Junckers Team wie geplant am 1. November sein Amt antreten.

Thomas Lohninger

Thomas Lohninger

Thomas Lohninger

"Dieselben ausweichenden Phrasen wie von Öttinger waren schon beim Hearing seiner Vorgängerin Neelie Kroes vor fünf Jahren zu hören", sagt Thomas Lohninger von der Initiative für Netzfreiheit zu ORF.at. Seit fünf Jahren liege das Thema Netzneutralität nun in Brüssel schon auf dem Tisch, ohne dass sich ein signifikanter Fortschritt ergeben hätte, so Lohninger, "Dabei ist es längst fünf vor zwölf. Je länger da verzögert wird, desto länger haben die Telekoms Zeit, vollendete Tatsachen zu schaffen."

Quer durch Europa laufen derzeit Versuche vor allem der Mobilfunker, rund um das Roll-Out des schnellen Breitbanddienstes LTE unterschiedliche neue Preismodelle einzuführen, die teilweise offen gegen die Netzneutralität verstoßen. Diese Modelle orientieren sich an der jeweiligen nationalen Gesetzeslage, denn von gemeinsamen, verbindlichen Regeln für den digitalen Binnenmarkt ist Europa derzeit noch weit entfernt. Wie in Österreich so ist auch in der überwiegenden Mehrzahl der EU-Staaten Gleichbehandlung der Daten in den Netzen nur ansatzweise oder gar nicht gesetzlich festgeschrieben. Nur in den Niederlanden und in Slowenien wurden bereits neue Gesetze zur Netzneutralität verabschiedet.

Paradigmenwandel rund um LTE

Mit einer Konsultation des EU-Regulators BEREC wurde die öffentliche Diskussion zum Thema Netzneutralität 2011 eingeleitet. Der letztlich erfolglose Ansatz, den Rat und Kommission vorgegeben hatten, war dabei, Verstöße gegen Netzneutralität nicht etwa abzustellen, sondern sie "transparent" zu machen. Die eigentliche Regelung der von regionalen Quasimonopolen dominierten Netzinfrastukturen würde dann "der Wettbewerb" besorgen.

Mit dem Aufstieg der mobilen Datendienste beginnt sich die bis dahin relativ einheitliche Praxis im Umgang mit den Datenströmen quer durch Europa zu wandeln. Davor waren die Netzbetreiber den informellen Prinzipien zur Behandlung von TCP/IP-Verkehr aus der Frühzeit des Internets gefolgt. Nach diesem, direkt aus der Technik des paketbasierten Datenverkehrs abgeleiteten "Best Effort"-Prinzip wird aller Datenverkehr möglichst gleich behandelt. Das Tempo der Datenauslieferung bestimmt allein die Bandbreite der Leitung zum Kunden, die sogenannte letzte Meile.

Mit dem Vormarsch des mobilen Breitbands ändert sich das, weil die letzte mobile Meile ja keine fixe Bandbreite wie eine Leitung bieten kann. Die Bandbreite variiert vielmehr, je nachdem, wie viele Mobilgeräte in einer Funkzelle gerade aktiv sind. Hier setzen quer durch Europa immer mehr Mobilfunker an, um neue Umsätze zu lukrieren, indem sie dieselben Methoden wie in den ATM-Netzen aus der ISDN-Zeit einzuführen versuchen.

Regulatorentest am Beispiel Drei

"Im Moment testen die Mobilfunker die Regulierungsbehörden in einigen Ländern Europas aus, um zu sehen, wie weit man gehen kann. Nicht nur der österreichischen RTR fehlt hier ein definierter gesetzlicher Rahmen", sagt Thomas Lohninger. Als Musterbeispiel nannte Lohninger das neue, vierstufige LTE-Angebot des Mobilfunkers Drei in Österreich. Nach dem Plan von Drei sollen ab Juni 2015 für den schnellen Mobilfunkstandard LTE auch neue Regeln für die Behandlung der Kundendaten gelten.

Preismodell für LTE-Breitband von Drei

Drei

Das Preismodell von Drei bei ausgelasteten Netzkapazitäten.

Das eigentlich Neue daran ist, dass die Tarifpolitik von Drei nicht von der neuen Qualität des Angebots, sondern vom Fall "ausgelasteter Netzkapazitäten" abgeleitet ist. Nur die oberste "Deluxe"-Klasse ist dabei priorisiert, die unteren drei Leistungsklassen werden unterschiedlich stark gedrosselt. Das sei notwendig, um 15 Prozent der Bandbreite für "gewisse Services" zu reservieren, namentlich "telemedizinische Dienste, Telemetrie-Dienste etc." bevorzugt zu behandeln, heißt es dazu von Drei.

Telemedizin über Mobilfunknetze

Ziemlich genau dasselbe hatte Angela Merkel am IT-Gipfel der deutschen Bundesregierung am Dienstag andersherum angesprochen. Netzneutralität sei derzeit noch kein Thema, zumal unter 50 Mbit/sec ohnehin keine Datendienste für selbstfahrende Autos oder Fernoperationen durchgeführt werden könnten, sagte Merkel zum erstaunten Publіkum. Öttinger wiederum hatte bei seinem Hearing erst gelobt, Europas Telekom-Industrie stärken zu wollen, und dann ebenfalls von ominösen "Spezialdiensten" geredet, die garantierte Bandbreiten benötigten.

Dieselben, nicht näher definierten "speziellen Dienste" fanden sich auch in allen bisherigen Kommissionsvorschlägen, ohne dass technisch einigermaßen plausible Anwendungen dafür genannt werden konnten. Hochkritische Datenservices für Telemedizin oder sogar Fernoperationen im TCP/IP-Datenstrom eines Mobile Consumer Networks routinemäßig abzuwickeln, ist nämlich sicherheitstechnisch einigermaßen absurd.

"Mittel- und langfristig gefährden solche Verstöße gegen die Netzneutralität die Innovationskraft des Internets, da andere ähnliche Dienste benachteiligt und der Wettbewerb auf diesen Markt verzerrt wird", hieß es seitens der Regulationsbehörde RTR im Juni zum Deal zwischen Drei und Spotify .

"Spezialdienste" und "Zero Rating"

Dennoch war die gesamte Amtszeit der nun scheidenden Kommissarin Neelie Kroes von diesen ominösen "Spezialdiensten" begleitet, sowie einem weiteren, angeblich diskriminierungsfreien Ansatz, den die Mobilfunker verfolgen. Die Preisgestaltung wird auch hier von einer Mangelsituation abgeleitet. Einer der Streaming-Anbieter bezahlt dafür, dass seine Daten nicht in die Volumenbeschränkungen des Kunden fallen, das nennt sich "Zero Rating".

Diese Streams werden also andersherum bevorzugt ausgeliefert, der Dienst ist auch dann noch in voller Bandbreite verfügbar, wenn das Datenvolumen des Kunden bereits aufgebraucht ist. Im Fall von Drei bezahlt der rasch wachsende Streamingdienst Spotify dafür, bevorzugt ausgeliefert zu werden, wobei es anfangs erklärtermaßen weniger um Gewinne, als vielmehr um die Markteroberung geht.

Zwei leuchtende Glasfaser-Steckkabel.

Linleo - Fotolia.com

Beispiel Spotify

Spotify wurde zwar in Schweden gegründet und hat seinen Hauptsitz immer noch dort, die Eigentümerstruktur ist jedoch längst alles andere als europäisch. Einer der ersten Geldgeber war Li Ka-Shing, Mehrheitseigentümer des Mischkonzerns Hutchison-Whampoa aus Hongkong, zu dem auch Drei gehört. In der Eigentümerstruktur von Spotify finden sich neben dem größten Investor Goldman Sachs fast nur US-Finzanzinvestoren, auch Coca Cola hält einen Anteil.

Im April hatte sich das EU-Parlament mit 534 Pro- und gerade einmal zwei Dutzend Gegenstimmen für eine Verankerung der Netzneutralität im EU-Rechtsrahmen ausgesprochen. Seitdem ist der Ministerrat am Zug.

Mittelfristig wird allgemein eine Übernahme durch einen der Internetkonzerne erwartet. Auch Netflix hat eine ganz ähnliche Eigentümerstruktur aus diversen Finanzinvestoren. Konkurrent Hulu war ebenso gestartet, wurde dann aber an ein Konsortium aus Unterhaltungskonzernen von NBC, Disney und Fox verkauft. Mit Google, Apple und Amazon sind dann schon alle großen Akteure auf dem Streaming-Markt genannt.

Fünf Jahre, kein Ergebnis

Die europäischen Telekoms sind deutlich weniger profitabel als die großen Serviceprovider wie etwa Google oder Facebook, weil mit Webѕervices nun einmal mehr und schneller Geld zu machen ist, als mit dem Bau der dafür erforderlichen Infrastruktur. Deshalb hat die scheidende Kommission auf Druck das Rats fünf Jahre lang versucht, diese Gewichtung zugunsten der europäischen Firmen zu verschieben. Ein unvermeidbarer Nebeneffekt wurde dabei vernachlässigt: dass dieser Ansatz nämlich dazu geeignet ist, den Status Quo der Marktbeherrschung zu zementieren.

In den USA wird eine ähnliche Debatte über Netzneutralität geführt. Der datenintensive Videostreaming-Dienst Netflix wurde von Großprovidern wie Comcast seit 2013 nur noch gedrosselt ausgeliefert.

Die europäischen Telekoms würden durch Sonderregelungen, die gegen die Netzneutralität verstoßen, womöglich etwas profitabler. Die Markteroberungspolitik der großen US-Serviceanbieter in Europa aber wird mit einem solchen Modell weitaus stärker angeschoben, neue europäische Webservices werden dadurch noch weniger Chancen haben. Wie das Beispiel Spotify zeigt, fehlt es in Europa an Venturekapital, um eine solche, in den ersten Jahren verlustträchtige Expansion durchzuziehen.

Europa in der Doppelmühle

Die Voraussetzung für Europa aus dieser Doppelmühle - sinkende Profite bei europäischen Infrastrukturanbietern, während neue Serviceprovider aus der EU kaum Chancen gegen finanzstarke US-Konkurrenten haben - herauszukommen, ist eine europäische Basisregelung zum Umgang mit diesen Daten. Seitens der neuen Kommission wurde zwar immer wieder die Dringlichkeit eines einheitlichen Rechtsrahmens betont, der Ball liegt wie auch im Fall der Datenschutzverordnung nun aber beim Ministerrat. Die aktuellen Wortmeldungen aus Deutschland signalisieren keine schnelle Einigung mit der Position des Parlaments, das sich im März mit großer Mehrheit für Netzneutralität ausgesprochen hatte.

Die Initiative für Netzfreiheit war europaweit eine der ersten Bürgerrechtsgruppen, die das Thema Netzneutralität bereits 2011 im Fokus hatten.

"Bei jeder weiteren Zeitverzögerung wächst die Gefahr, dass es frühestens 2018 einheitliche Regelungen gibt", sagt Lohninger, 2016 werde nämlich das 2011 beschlossene Telekompaket im Rahmen des normalen Update-Zyklus neu evaluiert. Sollte die Regelung zur Netzneutralität im Lauf des Jahres 2015 nicht unter Dach und Fach sein, ist es wahrscheinlich, dass beide Vorhaben zusammengelegt werden. Frühester realistischer Zeitpunkt für einen Abschluss wäre dann 2018, ein Jahr vor den nächsten Wahlen von EU-Kommission und Parlament.