Erstellt am: 21. 10. 2014 - 11:22 Uhr
Sparen als Verbrechen?
Auf Laut
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Christos Sideris hält einen mehrseitigen Fragebogen in seinen Händen: Allgemeine Fragen sollen klären, auf welche Art und Weise die Rechte einer Person verletzt worden sind. Gefragt wird unter anderem, ob man Zugang zu medizinischer Versorgung und zu öffentlichen Krankenhäusern hat, ob man notwendige Medikamente bezahlen kann, aber auch, ob die Patienten zu Hause Strom und Wasser haben, ob sie und ihre Familien genug zu essen haben und ob sie mit ihrem Einkommen menschenwürdig leben können. Den Fragebogen können sowohl Patienten als auch Ärztinnen und Ärzte ausfüllen und unterschreiben.
Christos Sideris
Sideris ist der Kommunikationsbeauftragte der sozialen Arztpraxis in Elliniko. Die Klinik wurde 2011 von engagierten griechischen Ärztinnen und Ärzten gegründet, um Menschen zu helfen, die keine Praxen oder öffentliche Krankenhäuser aufsuchen können, weil sie nicht versichert oder mittellos sind. Laut Schätzungen sind heute mehr als 2,5 Millionen Griechen nicht versichert und haben trotz aktueller Regelungen des Gesundheitsministeriums nicht immer problemlosen Zugang zu öffentlichen Krankenhäusern. Seit ihrem Bestehen wurden in der sozialen Arztpraxis schwangere Frauen, Familien und sogar schwere Fälle von Krebs- und Herzerkrankungen behandelt.
Seit kurzem beteiligt sich die soziale Arztpraxis an einer Initiative deutscher Menschenrechtler. Sarah Luzia Hassel-Reusing hat 2012 eine Anzeige vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (IStGH) erstattet: "Verdacht auf Verbrechen gegen die Menschheit durch großangelegte und systematische Schädigung der Gesundheit aufgrund der Sparmaßnahmen in Griechenland" - so lautet ihre Anzeige gegen unbekannt. Damit wollte sie aufzeigen, dass die von der EU und dem Internationalen Währungsfond verlangte Sparpolitik auf Kosten der Gesundheit zahlloser Griechinnen und Griechen gehe. Weil diese zum Teil hungern müssen und, wenn sie krank werden, nicht mit den notwendigen Medikamenten ausreichend versorgt werden, sollten die Verantwortlichen für diese Zustände auch vor Gericht landen.
Patienten und andere griechische Bürgerinnen und Bürger sollen mit ihren Zeugenaussagen über die Folgen der Sparpolitik die Strafanzeige stützen. Mit ihrer Teilnahme an der Initiative versuchen Aktivisten und Ärzte der sozialen Praxis, den Druck auf die griechische Regierung zu erhöhen, aber auch auf diejenigen, die Griechenland seit fast fünf Jahren diese harte Sparpolitik diktieren.
Christos Sideris
"Unser Ziel ist es zu beweisen, dass die Menschenrechte in Griechenland verletzt worden sind und dass diejenigen, die im In- und Ausland dafür verantwortlich sind, dafür bestraft werden müssen", so Sideris. Die Arztpraxis möchte etwa 90 Zeugenaussagen sammeln. Erfahrungsgemäß ist das etwa die Zahl, die es braucht, um das Gericht davon zu überzeugen, ein Verfahren einzuleiten. Die ersten Zeugenaussagen gibt es bereits, unter anderen von Menschen, die das Land mittlerweile verlassen haben.
Die Aussagen zu sammeln, sei nicht immer einfach, betont Sideris. Viele Betroffene seien verzweifelt. "Angst ist im Moment das vorherrschende Gefühl in der griechischen Gesellschaft. Außerdem glauben die Menschen, dass nichts mehr zu machen ist. Wir erklären ihnen, aus welchem Grund wir diese Zeugenaussagen sammeln und wie wichtig Gerechtigkeit ist", sagt der Kommunikationsbeauftragte der sozialen Arztpraxis.
Eine Gruppe von etwa zehn Freiwilligen nimmt die Zeugenaussagen auf. Dazu gehört auch der Rentner Petros. Er habe bereits mit vier Betroffenen gesprochen und betont, wie wichtig es für sie sei, ihren Fall vor ein internationales Gericht zu bringen. "Sie wollten, dass ihr Problem bekannt wird. Dass sie damit dem Schweigen, der Isolation ein Ende setzen", sagt Petros.
Christos Sideris
Hassel-Reusings Strafanzeige wurde im November 2012 vom IStGH angenommen und ist unter dem Zeichen OTP-CR-345/12 registriert. "Es ist kein Schicksal und auch keine Naturkatastrophe, wenn Menschen gesundheitlich geschädigt werden, weil man ihnen gesundheitlich notwendige Mittel vorenthält, obwohl auch woanders gespart werden könnte", sagt Volker Reusing, der Ehemann der Menschenrechtlerin. Es sei eine Straftat, und zwar ein Verbrechen gegen die Menschheit gemäß Artikel 7 Absatz 1 des Römischen Statuts, wenn man vorsätzlich oder systematisch die Gesundheit einer Zivilbevölkerung schädige, betont er. In einem Blog veröffentlichen seine Frau und er Informationen über ihre Aktionen in Den Haag und die über 700 Seiten lange Strafanzeige, an der sie zwei Jahre lang ehrenamtlich gearbeitet haben. Das deutsche Paar ist fest überzeugt, dass der drastische Abbau des Sozialsystems im Widerspruch zu den Menschen- und Grundrechten steht, nicht nur in Griechenland. Sie wollen dies anhand von EU-Dokumenten aufzeigen. Reusing sagt, es gehe darum, Gerechtigkeit für die Griechinnen und Griechen zu schaffen, aber auch darum, "möglichst viele Menschen in Europa davor zu bewahren, dass ihnen das Gleiche passiert".