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Rainer Springenschmid

Punk & Politik, Fußball & Feuilleton: Don't believe the hype!

18. 10. 2014 - 15:00

"Über das Meer"

Der Journalist Wolfgang Bauer hat versucht, mit syrischen Flüchtlingen über das Mittelmeer zu kommen. Zweimal landet er im Gefängnis: in Ägypten und in Österreich.

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Das Grauen hat eine kurze Halbwertszeit. Als vor fast genau einem Jahr vor Lampedusa hunderte Flüchtlinge ertrinken, startet Italien die Operation "Mare Nostrum", unter deren Label die italienische Küstenwache seither mehr als 100.000 Flüchtlinge aus dem Meer gefischt und in Europa an Land gebracht hat. Weil Europa Italien mit dieser Operation allein lässt, wird die italienische Regierung Ende Oktober "Mare Nostrum" auslaufen lassen. Zeitgleich startet am 1. November die Operation Triton der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Die hat aber laut Frontex-Chef Gil Arias-Fernandez nicht die Priorität, Menschenleben zu retten.

Hunderte Flüchtlinge auf einem Boot vor der italienischen Küste von Lampedusa

APA/EPA/ITALIAN NAVY PRESS OFFICE / HANDOUT

Flucht aus Ägypten

Wolfgang Bauer ist Reporter bei der Zeit. Gemeinsam mit dem Fotografen Stanislav Krupar hat er ein halbes Jahr vor der Lampedusa-Katastrophe versucht, syrische Flüchtlinge auf ihrem Weg von Ägypten nach Europa zu begleiten. Sie lassen sich Bärte und Haare wachsen und geben sich als Englischlehrer aus dem Kaukasus aus. In Kairo treffen sie Amar Obaid, Syrer aus Homs, verheiratet, Vater dreier Töchter. Amar, der in Wirklichkeit anders heißt, entstammt einer wohlhabenden syrischen Kaufmannsfamilie und hatte sich nach seiner Flucht aus Homs in Kairo ein Geschäft mit importierten indischen und balinesischen Möbeln aufgebaut. Als nach den Wirren der ägyptischen Revolution und deren Nachwehen die syrischen Flüchtlinge als Sündenböcke herhalten müssen und als Terroristen und Schmarotzer verhetzt werden, beschließt Amar, ein zweites Mal zu fliehen - diesmal über das Meer, nach Europa.

Da es keine legale Möglichkeit gibt, nach Europa einzureisen oder von außerhalb Asyl oder den Flüchtlingsstatus zu beantragen, müssen die Flüchtlinge Schlepperdienste in Anspruch nehmen. Seriös ist die Schlepperbranche natürlich ganz und gar nicht, und dementsprechend chaotisch verläuft die gemeinsame Flucht. Bevor sie zum ersten Mal ein Boot betreten, werden sie entführt, als Geiseln genommen, zu zwanzigst in enge Wohnungen gepfercht und von konkurrierenden Schleppern abgeworben. Über eine Woche dauert es, und nach nicht einmal einer Nacht auf dem Wasser landet die ganze Gruppe in den Fängen der ägyptischen Küstenwache und im Gefängnis. Was sich in dieser Kürze fast wie das Skript eines Slapstick-Films liest, ist in der Realität ein Spiel auf Leben und Tod. Für die Menschen, die es wagen, ist Europa die letzte Hoffnung auf ein Leben in Frieden und gesicherter Existenz. Dafür nehmen sie die Todesgefahr in Kauf.

ein Boot mit Flüchtlingen in der Nacht vor einem Felsen, im Hintergrund Lichter

Suhrkamp / Stanislav Krupar

Das Boot, das die Flüchtlinge zu ihrem Flüchtlingsschiff bringen soll, kurz bevor es von der ägyptischen Küstenwache entdeckt wird.

Abgeschoben nach Europa

Wolfgang und Stanislav werden schließlich über Istanbul nach Europa abgeschoben, aber sie bleiben mit einigen ihrer Fluchtgenossen in Verbindung. Als drei von ihnen es schließlich tatsächlich nach Italien schaffen - aufgegabelt von der italienischen Küstenwache - müssen sie innerhalb Europas wieder Fluchthilfe in Anspruch nehmen: die innereuropäischen Grenzen sind für Flüchtlinge nämlich nicht offen, und die drei möchten zu ihrem Bruder nach Schweden. Wolfgangs und Stanislavs Versuch, sie über Österreich nach Deutschland zu bringen, endet für die beiden wieder kurzzeitig in einer Gefängniszelle - diesmal in Innsbruck.

Wolfgang Bauer und Stanislav Krupar sind nicht die ersten Europäer, die sich auf die Spuren derer heften, die man hier so zynisch wie menschenverachtend "Illegale" nennt. Anfang des Jahrzehnts war es der Italiener Fabrizio Gatti, der mit afrikanischen Flüchtlingen durch die Sahara reiste. Bereits 2009 erschien, mit deutlich weniger Medienecho, das Buch Als Blinder Passagier des Togoers Quilombo Hoknay, in dem er seine Flucht nach Deutschland schildert.

Den Flüchtenden die Würde zurückgeben

Diese Bücher zeigen das, was von Medien und PolitikerInnen ausgeblendet wird, wenn sie mit technischen Begriffen wie "Flüchtlingsschwemme" hantieren oder mit herabwürdigenden wie "Illegale". Sie beschreiben die Flüchtenden als gleichwertige Menschen, mit einer Biografie und mit ihren Motiven nach Europa zu kommen, sie beschreiben die Unwirksamkeit der Mauern um die Festung Europa und sie geben auch den vielen tausend Toten, die das europäische Grenzregime bereits gefordert hat, ein Gesicht und einen kleinen Teil ihrer menschlichen Würde zurück. Und nicht zuletzt handeln diese Bücher von unserem ungerechten Glück, hinter und nicht vor diesen Mauern geboren zu sein.