Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "(Alb)traum Europa"

Zita Bereuter

Gestalten und Gestaltung. Büchereien und andere Sammelsurien.

13. 10. 2014 - 18:29

(Alb)traum Europa

Ville Tietäväinen zeigt in seiner ausgezeichneten Graphic Novel "Unsichtbare Hände" die Sklaverei-ähnlichen Lebensumstände Afrikanischer Flüchtlinge in Europa auf.

FM4 Auf Laut

In FM4 Auf Laut am 14.10. ab 21 Uhr diskutiert Lukas Tagwerker über Fluchthilfe zwischen Rettung und Ausbeutung.

Es ist dieser hoffnungslose Typ, um die 30 Jahre alt, in abgetragener Kleidung. Er verkauft vor der Oper in Paris kleine Superheldenfiguren mit Saugnäpfen an Armen und Beinen. Wirft man sie an ein Fenster, purzeln sie der Scheibe entlang runter. Also schleudert er sie immer wieder an ein Schaufenster. Der Ladenbesitzer stürmt heraus, schreit den Verzweifelten an, er solle verschwinden. Was dieser auch macht - ohne irgendeine Regung im Gesicht, um die kleinen Superhelden an das nächste Schaufenster zu werfen.

buchcover unsichtbare Haende - Zeichnung, mann steht auf denkmal

Ville Tietäväinen/Avant Verlag

Ville Tietäväinen: "Unsichtbare Hände", übersetzt von Alexandra Stang, Avant Verlag 2014

Ville Tietäväinen konnte diesen Mann nicht vergessen. Wie lebte der wohl, welche Hoffnungen und Motive hatte er, als er nach Paris kam? Hatte er eine Familie? War er in Kontakt mit dieser oder schämte er sich, weil er ihr kein Geld schicken konnte?

Also recherchierte er über illegale Einwanderer und stieß auf den finnischen Sozialanthropologen Marko Juntunen, der jahrelang in Marokko gelebt und Motive und Hintergründe von Flüchtlingen erforscht hatte.

Die beiden reisten erneut nach Marokko und Südspanien und hörten den vielen Geschichten zu, die es in fast jeder Familie zu erzählen gibt.

Übrigens arbeiten schon seit Generationen Männer aus Marokko in dem nur wenige Kilometer entfernten Spanien saisonal als Erntehelfer oder Fischer. Seit 1991 brauchen sie dazu allerdings ein Visum. Und seither blüht das illegale Schlepperwesen.

Familien legen ihr Hab und Gut zusammen, um die teuren und gefährlichen Überfahrten zu finanzieren. So ist es auch bei Rashid, dem Protagonist der fiktiven Graphic Novel. Er hat seinen Job als Schneider in Tanger verloren. Gemeinsam mit seiner unglücklichen Frau und dem kranken Kind wohnt er in einer Baracke ohne fließend Wasser beim Haus seiner alten Eltern. Er ist derjenige, der das Geld ins Haus schaffen muss. Weil das in Marokko unmöglich ist, schließt er sich einer Schlepperbande an. Die sehr teure Überfahrt wird günstiger, wenn man für die Schlepper Drogen schmuggelt.

"Unsichtbare Hände" von Ville Tietäväinen from avant-verlag on Vimeo.

Ville Tietäväinen beginnt die Graphic Novel mit dieser gefährlichen nächtlichen Überfahrt, die für etliche tödlich endet.

Soviel steht nach wenigen Seiten fest – dieser Comic ist harte Kost. Und auch wenn die Geschichte von Rashid fiktiv ist, so ist sie das Konzentrat vieler Erfahrungen, von denen Ville Tietäväinen in Marokko gehört hat.

Die Flucht nach Europa gehöre ganz selbstverständlich zum Leben eines Mannes in Marokko, erklärt Ville Tietäväinen. Am meisten würden sich diejenigen schämen, die es nicht mal versucht haben, die nie den Mut zur Flucht hatten.

Allerdings finden sich viele in Europa erst wieder in einer hoffnungslosen Situation. In Spanien habe er Männer getroffen, die ihre Familie aus Scham belügen bzw. sich gar nicht mehr bei melden, sodass die Angehörigen häufig glauben, sie seien verstorben.

Portrait ville Tietäväinen

Avant Verlag

Ville Tietäväinen, geboren 1970 in Helsinki, arbeitet als Comic-Künstler, Grafikdesigner und Architekt.

Die unmenschlichen Zustände zeigt Ville Tietäväinen beeindruckend in Gelb-, Ocker- und Brauntönen. Farben wären fehl am Platz. Am meisten schockierte ihn aber die bewusste offizielle Duldung dieses Elends. In Marokko wie in Europa würden sowohl Schlepper als auch Polizei, die Grenzkontrolleure, die Unternehmer und die Bauern zusammenarbeiten. Schließlich profitieren sie alle von den Händen der unsichtbaren Arbeitskräfte.

Er sei glücklicherweise Künstler, nicht Politiker, er habe keine Lösung, aber er wolle das Problem aufzeigen und zum Nachdenken anregen.

Das ist ihm mit der großformatigen Graphic Novel "Unsichtbare Hände" bestens gelungen.