Erstellt am: 13. 10. 2014 - 16:27 Uhr
"Is it so different now..."
Als Arthur Russell 1992 vierzigjährig an einem Halstumor (Folge einer HIV-Infektion) stirbt, hat er eine musikalische Biografie hinter sich, die ihresgleichen sucht und schlicht nur grenzüberschreitend genannt werden kann.
Die Compilation "Red, Hot & Arthur Russell" erscheint am 17 Oktober via Yep Roc
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Er ist Cello-Wunderkind in Iowa, als er von seinem Vater wegen eines Joints rausgeschmissen wird. Daraufhin geht er nach San Francisco in eine buddhistische Wohngemeinschft, studiert indische, klassische Musik und versteckt sich heimlich in einem Schrank, um Cello zu üben. Er begleitet Allen Ginsberg, der "in ihn verliebt" gewesen sein will, bei Lesungen auf dem Cello. Dann geht er nach New York, um weiter Musik zu studieren und komponiert ein serielles Musikstück, das sein Lehrer als das "grauenhafteste, was er je gehört hat" bezeichnet. Er lernt Robert Wilson, Philipp Glass und David Byrne kennen und wird der musikalische Direktor der "Kitchen", wo in den siebziger und achtziger Jahren die gesamte musikalische Avantgarde der Welt auftreten sollte, mit Nitsch- und Mapplethorpe-Ausstellungen obendrein. Er zerstreitet sich mit der Avantgarde, nachdem er Jonathan Richman und die Talking Heads in den Kulturtempel bucht. Sein Liebhaber schleppt ihn daraufhin in die Disco und es ist um ihn geschehen. Er wird zu einem der einflussreichsten Disco Produzenten der Szene und hat mit den Bands Dinosaur (weshalb Dinosaur Jr. das "Jr." in ihrem Namen tragen) und den Loose Joints Ungerground Hits. Geld verdient er die ganze Zeit über so gut wie keines.
Russell kennt keine Grenzen. Nicht die Grenzen von Pop, von Disco, nicht die von Klassik, nicht die von Punk, von Dub, nicht die von weißer oder schwarzer Musik. Er antizipiert House, Techno, Eurodance genauso wie Loop Music, postmodernen Indie Folk, Home Recording, Lo- Fi. Bereits 1985 sieht er aus wie ein 2010er-Brooklyn-Hipster, also wie ein in die Stadt verpflanztes Landei mit Baggerfahrermütze und Kurzarmhemd. Jede Brusttasche dieses Hemdes ist voll mit kleinen Zetteln voller Songfragmente.
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Auch seine Arbeit kennt keine Grenzen. Er ist imstande, täglich zig Songfragmente aufzunehmen oder hinzuschreiben, seien es Suiten für Ensembles oder kleine Miniaturen für Cello und Gesang. Zugleich ist er ein derartiger Perfektionist, dass seine Mitstreiter Peter Zummo und Ernie Brooks ihm Bänder stehlen müssen, um sie veröffentlichen zu können und ihn daran zu hindern, noch 400 verschiedene Endmixe eines Tracks aufzunehmen.
Er hinterlässt nach seinem Tod hunderte Bänder mit Aufnahmen eines einzigen Tracks sowie ebenso viele mit Fragmenten. Sexy Disco-Musik, unhörbare Rückwärtsschleifen und Minimalmusik wechseln sich ab mit naiv-spontanen Lo- Fi- Folksongs und kitschigen Bereu- Balladen. Nahezu zugleich mit seiner Zusammenarbeit mit dem Ur- DJ und christilichen Fundamentalisten Walter Gibbons veröffentlicht er ein 48 Stunden langes Orchesterwerk und die beatlose Kritikerlieblingsplatte "World of Echo" , in der Händeklatschen die einzige Percussion und Cello das einzige Insstrument bleibt. "World of Echo" verkauft sich so gut wie nicht, bleibt aber die Blaupause für ziemlich alle Weird Folk und Homerecording Werke der 30 Jahre danach. Wann immer seither jemand auf ein Loop Pedal tritt, tötet Arthur Russells Geist einen Engel.
Dass so ein manisches Experimentier-Gespenst wie Arthur Russell immer mehr ein "Musician's Musician" geblieben ist, verwundert nach längerem Hören nicht wirklich. Seine deepsten Funk-Tracks hatten immer etwas unkörperlich-Fragiles, seine süßesten Liebeslieder immer etwas entrückt-Kühles, seine Weirdness war immer unsicher und zu wenig "in the Face" für ein sensationsliebendes und auf Uneindeutigkeit uneindeutig reagierendes Publikum. Er hat die Bestätigung seiner vielfältigen Visionen nicht mehr erlebt, nicht die große Zeit von RZA oder des Maschinen-Dubs von Word/Sound, nicht den manischen Bastlernerd Trent Reznor, nicht Safety Scissors oder Blood Orange, nicht die Shins oder Postal Service, nicht Caribou oder Four Tet - sein Einfluss auf all die Obgenannten kann nicht hoch genug eingeschätzt werden und die einsamen, hässlichen, abgelehnten, romantischen Musikbesessenen aller Welt beten nach wie vor am Altar des Arthur Russell...
Ein rares Dokument: Der "Arthur Russell Abend des Kunsthauses Bregenz, im Rahmen des Sommerfestivals "Vom Werden und Sein" mit dem glühenden Arthur-Russell-Verehrer Joel Gibb (Hidden Cameras), der Fagottistin Katherine A. Young und dem Schweizer "Faust Quartett"