Erstellt am: 10. 10. 2014 - 14:10 Uhr
Schwerelos durch die Nacht
Ende 2013 ist posthum Wolfgang Herrndorfs Blog/Tagebuch in Buchform erschienen, der sprechende Titel: "Arbeit und Struktur". Der deutsche Schriftsteller beschreibt darin das harte Feilen an den eigenen Texten, oftmalig das Verzweifeln, das Hadern. Dann auch wieder die Momente, in denen es flutscht, das Glück des Weiterkommens. Eine große Kunst Herrndorfs besteht darin, dass man seinen fertigen Texten den zermürbenden, langwierigen Arbeitsprozess dann eben genau nicht anmerkt.
Auslaugende Arbeit und strenge Struktur, das Ergebnis sind Romane, die fließen und fliegen, luftige Geschichten, die tönen als wären sie Herrndorf in süßen Träumen bloß so zugefallen. In Herrndorfs Büchern wirkt kein prahlerisches Gepose durch, kein eitler Selbstvergewisserungszwang des Künstlergeistes.
Nicht in "In Plüschgewittern", Herrndorfs Debütroman über selbstherrlich-freches Jungmännertum, nicht in seinem großen, großen Erfolgskracher, der Teenager-Road-Novel "Tschick". Auch nicht in seinem aufwendig geschraubten Opus Magnum, der verwinkelten, personalreichen Krimi/Thriller-Versuchsanordnung "Sand". Es sind genau und schlank gebaute Bücher, die nicht ständig und dauernd behaupten müssen, dass hier gerade gewaltige Literatur gestemmt wird. Sie sind. Klar und präzise und reich und tief und verzaubernd.
Mathias Klainholz
Letztes Jahr hat sich Wolfgang Herrndorf nach langer, schwerer Krankheit das Leben genommen, vor kurzem ist sein letzter, unvollendeter Roman erschienen: "Bilder deiner großen Liebe" ist wieder so ein traumhafter und traum-hafter Text geworden, 130 Seiten schmal. Da Herrndorf wusste, dass er "Bilder deiner großen Liebe" nicht mehr fertigstellen würde können, sollten nach seinem Wunsch andere, Freunde, das Buch fertigstellen. Erst nach längeren Gesprächen akzeptierte er, dass sich niemand finden lassen würde, der diese Aufgabe übernehmen konnte oder wollte. Die beiden Herausgeber von "Bilder deiner großen Liebe", Katrin Passig und Marcus Gärtner, haben das vom Autor hinterlassene Material nun mithilfe von Notizen und Anmerkungen geordnet, geringfügig editiert und in Form gebracht. Es ist ein Buch von Wolfgang Herrndorf.
"Bilder deiner großen Liebe" ist eine Art Spin-Off von "Tschick": Isa, das tolle, verrückte Mädchen, das die beiden herzigen Helden des Romans dort auf einer Müllhalde treffen, ist hier nun die Hauptfigur, das Buch aus ihrer Perspektive erzählt. Isa mit den komischen Ideen und der totalen Weltverstehung:
"Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert. Weil das viele Leute denken, dass die superkomplett bescheuert sind, die Verrückten, nur weil sie komisch rumlaufen und schreien und auf den Gehweg kacken und was nicht alles. Und das ist ja auch so. Aber so fühlt es sich nicht an, jedenfalls nicht von innen, jedenfalls nicht immer."
Gleich zu Beginn flüchtet Isa aus einer Anstalt. Den Grund ihres Aufenthalts dort erfährt man nicht, sie selbst jedenfalls spricht von einer "Klapse". Auch Isas genaues Alter wird man in Laufe von "Bilder deiner großen Liebe" nicht glaubhaft versichert bekommen, sie dürfte 13 oder 14 Jahre alt sein. Es beginnt eine Reise über Wiesen, Felder, Flüsse, durch Wälder und durchs Gebirge. In losen Episoden trifft Isa, einer kleinen Prinzessin gleich, auf seltsame, meist melancholische Gestalten: Einen traurigen Kapitän, einen Bauarbeiter, einen Schriftsteller, einen Trinker, einen Trucker.
"'Kann ich mitfahren? Kann ich mitfahren? Kann ich bitte mitfahren?' Der braunrotgesichtige Mann schüttelt den Kopf. Ich ziehe mein T-Shirt straff. Ich stütze die eine Hand in die Seite, als hätte ich Seitenstiche. Ich weiß wie ich aussehe."
Rowohlt
So etwas wie Plot existiert nur vage. Was Isa tatsächlich erlebt oder erlebt hat, was sie sich erträumt oder herbeifantasiert, ist kaum auszumachen. Die freche, verwirrte, bauernschlaue Isa driftet durch die Anekdoten und die Natureindrücke, steigt wie Büchners Lenz durch die Fauna und Flora: "Ich gehe im Tannenwald bergan." . Trotzige Gedanken von Teenagerrebellion, vermeintlich philosophische Einsichten und Selbstreflexion mischen sich.
"Die Wärme des Tages ist im Gras. Ich liege auf dem Rücken. Weiß umrandete Wolken ziehen vor dem Mond vorbei. Ich stelle mir vor, jemand sieht mich von oben, aber niemand sieht mich. Dabei liege ich so malerisch."
Wolfgang Herrndorf ist noch einmal ein tatsächlich überwältigender, kleiner Roman gelungen. Eine seltene Stimme in der deutschen Gegenwartsliteratur, die die Anstrengung verschleiert, oft schlicht und beiläufig daherkommt. Dann immer wieder doch Platz hat, fein dosiert, für die großen poetischen Bilder, eine seltsame Formulierung, einen schiefen Witz.
Man muss "Tschick" nicht gelesen haben, um "Bilder deiner großen Liebe" lesen zu können. Die Überschneidungen zwischen den beiden Büchern sind gering, kurze Querverweise und thematische Anspielungen bringen klarerweise aber doch ein bisschen Bonuskribbeln. Ein flapsiger Humor, Geschichten von Sehnsucht und Traurigkeit, ein passenderer Titel, der im genau richtigen Maße im Gefühl rührt, als dieser hier ist kaum denkbar: "Bilder deiner großen Liebe".
"Auf den nassen Ziegeln komme ich gleich ins Rutschen. Ich kann gerade noch die Dachrinne greifen. Einen Moment hänge ich baumelnd da, meine Füße knallen gegen die spießige Hauswand, dann lasse ich los und breite die Arme aus. Manchmal bin ich ein Adler."