Erstellt am: 7. 10. 2014 - 17:24 Uhr
"Die Menschen fühlen sich verraten und verlassen!"
Die mehrheitlich kurdisch besielelte Stadt Kobane an der türkisch- syrischen Grenze fällt gerade nach fast dreiwöchigem Kampf in die Hände der Terroristen des selbsternannten „Islamischen Staates“ (IS) . KämpferInnen der kurdischen Miliz YPG hatten ihnen mit Unterstützung aus der Luft seitens der Internationalen Gemeinschaft und trotz drückender militärischer Überlegenheit der IS fast drei Wochen standgehalten. Die nur wenige Kilometer entfernt türkische Armee hatte zwar vom türkischen Parlament grünes Licht zum Eingreifen in den Konflikt bekommen, griff aber nicht in die Kampfhandlungen ein. Die kurdischen Milizen, vor allem die ausschließlich aus Frauen bestehenden Einheiten der YPJ, erwarten bei einem Sieg der IS grausame Vergeltung, Vergewaltigung und Tod. Weltweit regen sich Proteste der kurdischen Communties, die vor allem der Türkei, aber auch der von den USA angeführeten internationalen Gemeinschaft, die Schuld am vielleicht bevorstehenden Genozid an den syrischen Kurden und Kurdinnen geben.
Die kurdischstämmige Nationalratsabgeordnete Berivan Aslan war bei FM4 im Studio und schildert ihre Sicht einer Kurdischen Identität und das Ringen der Kurden um Selbstbestimmung und Souveränität.
Berivan Aslan, geb.1981, ist die einzige kurdischstämmige Nationalratsabgeordnete Österreichs. Sie engagiert sich seit frühester Jugend für Menschenrechte.
Robert Zikmund: Sie sind Polilitikwissenschaftlerin, Juristin und Abgeordnete der Grünen. Die einzige kurdisch-stämmige Nationalrats-Abgeordnete in Österreich derzeit. Geboren in der Türkei, setzen Sie sich sehr für Menschenrechte in der Türkei ein. Wo sehen Sie ihre Wurzeln: türkisch oder kurdisch?
Berivan Aslan: Ich muss zugeben, dass ich mich in Tirol viel mehr beheimatet fühle, da habe ich mein ganzes Leben verbracht. Deswegen bezeichne ich mich als „alpine Kurdin“. Ich hatte auch nie die Gelegenheit, nach Kurdistan zu fahren. Ich kenne das Gefühl nicht, in einen Bus zu steigen oder auf der Straße zu gehen und überall wird meine Muttersprache gesprochen. Das mag für Sie selbstverständlich sein, für mich sind das Gefühle, die ich noch nie erlebt habe.
Vor allem kommt mein Engagement nicht von meinen kurdischen Wurzeln, sondern daher, dass ich eine Frau bin. Ich setze mich für Frauenrechte ein, für Frauen, die von der IS entführt, versklavt und verkauft werden. Dass ich als Mensch diesen Völkermord mehr in den Mittelpunkt stellen will und den Menschen zeigen, was gerade hier passiert. Es sind weniger die Wurzeln, die mich dazu gebracht haben, da etwas zu machen, sondern das Universelle.
Wie ist das für jemanden wie Sie, die in Ö aufgewachsen ist: Was empfinden Sie bei dem Wort Kurdistan? Gibt es da eine Gemeinsamkeit zwischen allen Kurden?
Für mich ist das eine Region, genauso wie Tirol, ein Gebiet, wie Mesopotamien, das kann ich nicht anders formulieren. Abgesehen davon gibt es das autonome Gebiet Kurdistan, das sogar in der irakischen Verfassung drinsteht. Deswegen verstehe ich die aggressiven Reaktionen nicht, nur weil man sich als Kurdin bezeichnet. Oder weil man gewisse Gebiete als Kurdistan oder Mesopotamien bezeichnet. Es ist für mich ein reines Symbol dieses Rassismus und dieser Assimilationspolitik: Du bist keine Kurdin sondern eine Bergtürkin! Die nicht existieren sollte unter dieser politischen oder ethnischen Identität.
Interviewtranskription: Irmi Wutscher

© Parlamentsdirektion / PHOTO SIMONIS
Wie erleben sie das Narrativ in dem diese Bilder eingebettet sind, die wir täglich in den Medien sehen, vor allem aus Kobane. Da steht die IS jetzt vor den kurdischen Kämpfern, die teilweise mit ganz wenigen Waffen ausgestattet sind. In den Medien lesen wir, die Kurden kämpfen gegen die IS und alle anderen schauen zu und lassen sie alleine. Empfinden Sie das auch so?
Sie werden mir nicht glauben, aber ich habe das Gefühl, als klebten diese brutalen Bilder in meinen Augenlidern und immer wenn ich meine Augen zu mache, sehe ich diese verzweifelten Menschen. Die Kurden werden im Moment von der ganzen Welt im Stich gelassen. Die IS wurde nicht gegründet, um einen Völkermord an den Kurden durchzuführen, sondern die IS wurde gegründet, um eine harte Antwort auf den Westen zu sein. Deswegen sehe ich den Westen dazu verpflichtet, diesen Krieg nicht als einen geopolitischen Krieg zu betrachten, sondern als einen Krieg, der auf den Westen ausgerichtet ist.
Das heißt Sie fühlen sich verraten und verlassen?
Ja! Die Menschen fühlen sich verraten und verlassen! Das ist der Grund, warum viele Kurden auf der Straße sind. Ich verstehe die Wut der kurdischen Community, die sagt: Warum werden wir nicht wahrgenommen? Wir haben uns nicht gegen die IS gestellt und gesagt: Wir töten euch jetzt, weil wir einen eigenen Staat wollen! Wir sind angegriffen worden und jetzt in einer Notwehr-Situation.
Die Peschmerga im Nordirak haben vom Westen Waffen bekommen. Die Kämpfer in Kobane bekommen gar nichts und kämpfen zum Beispiel mit selbstgebauten Panzern. Wie kann man das erklären, dass die einen Waffen bekommen und die anderen nicht?
Der Unterschied zwischen Peschmerga und YPG ist einfach, dass die YPG der syrische Teil der PKK in der Türkei ist und dass die PKK immer noch auf einer Terrorliste steht. Das ist auch der Grund, warum sich viele Staaten weigern, Waffen zu liefern. Natürlich hat es am Anfang Kommunikationsschwierigkeiten zwischen der YPG und den Peschmergas gegeben. Aber de facto haben die auch eine Blockade. Auch wenn die Peschmerga helfen will, muss die Türkei ihnen die Türe öffnen – dass sie über die Türkei ihre Unterstützung in Kobane anbieten kann. Aber das macht die Türkei nicht und deswegen sitzen die Peschmergas in Kurdistan und in Kobane sitzen die YPG hilflos da.
Sie haben es gerade angesprochen: die PKK steht nach wie vor auf der Terrorliste der EU, aber IS oder auch Boko Haram zum Beispiel nicht. Wie läuft da die Debatte in der EU?
Im Moment wird über das Thema kaum geredet. Es ist ein Tabuthema, weil man Angst hat, dass diplomatische Beziehungen beendet werden, dass die türkische Regierung diesen Staaten gegenüber die Beziehungen lockern wird. Auf der anderen Seite ist es fragwürdig, weil im Friedensprozess die Türkei auch mit der PKK einen Dialog geführt hat. Das ist das Paradoxe: Wenn ich jemanden als Terrorist bezeichne und auf der anderen Seite auch verhandle. Da stellt sich die Frage: Was ist mein Ziel, was will ich wirklich bewirken?
Glauben Sie, hätte die Türkei noch vor fünf Jahren anders reagiert? Liegt das auch an der jetzigen türkischen Regierung?
Bezüglich der Kurdenfrage muss sich sagen, dass sich in der Türkei in den letzten zehn Jahren viel getan hat. Erdogan hat einerseits vieles dazu beigetragen, dass die Kurden sich in der Türkei frei bewegen können. Immerhin gibt es sehr viele Kurden, die ihn auch wählen. Auf der anderen Seite stockt vieles, weil es noch nicht gesetzlich geregelt ist, wie zum Beispiel der muttersprachliche Kurdisch-Unterricht. Der ist derzeit sogar verboten! Das sind Sachen, die im Paradox zueinander stehen. Aber natürlich, die Türkei war vor 15 Jahren wahrscheinlich ganz anders, da gab es eine radikalere Politik. Aber an der Situation hat sich nichts geändert. Die Türkei hat leider den Friedensprozess mit ihrer Zurückhaltung aufs Spiel gesetzt.
Die Kurdenfrage wird ja schon seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten diskutiert. Was wäre denn die Lösung: Das Modell des kurdischen Staates – mit mehreren Sprachen und Ethnien? Schwebt das alle Kurden gemeinsam vor?
Ich habe mit vielen verschiedenen Menschen geredet, die aus verschiedenen Strömungen kommen, von der YPG, der PKK und den Anhängern der KDP. Diese Menschen sind einfach müde. Sie sagen, wir wollen keinen blutigen Kampf, wir wollen nicht einmal eigene Grenzen. Sondern wir wollen nur einen Raum, in dem wir uns frei bewegen können, wo wir unsere kurdischen Namen tragen und unsere Muttersprache sprechen können. Die PKK hat ja vor zehn Jahren gesagt, dass ein eigener kurdischer Staat nicht erforderlich ist, sondern dass sie sich ein Modell der autonomen Gebiete wünscht. Wo sie ihre Sprache sprechen und ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben können. Es wäre ein Traum, wenn diese Staaten dazu beitragen können, dass wie in der Schweiz die Menschen in diesen Gebieten ihre eigene Muttersprache sprechen können. Aber davon sind wir weit entfernt.<<
Zurück nach Österreich: Was würden sie sich denn von den Menschen in Österreich wünschen, was kann man denn tun, um einen Unterschied zu machen?
Wir haben es einfach versäumt, diesen Völkermord zu verhindern. Mit "wir" meine ich Europa, mit "wir" meine ich die Welt, auch die UNO. Hätten wir viel schneller reagiert, wären heute tausende Menschen noch am Leben. Was wir ab jetzt machen können, ist zumindest diese Blockaden zu durchbrechen. Die Tabus brechen, sagen, wir unterstützen euch und sind solidarisch, zumindest mit dem, was danach kommt. Die Kurden in Wien sind wütend, weil sie von niemandem verstanden werden. Sie werden immer mit Flüchtlingsproblemen konfrontiert. Wo man dann den Leuten erklärt: Wenn sie keine Flüchtlingsprobleme haben wollen, dann legen sie bitte ihren Fokus auf die Kriege. Und stoppen sei diese Kriege, diese Brutalität. Damit Österreich und Europa seine Flüchtlingsprobleme nicht auf unmenschliche Weise führen muss.<<
Jeder Beitrag auf Sozialen Medien, jeder Beitrag auf der Straße, trägt zur Sensibilisierung bei. Dass es keine Grenzen gibt zwischen den Herzen von Menschen. Dass es keinen Unterschied macht, von welcher Ethnie, von welchem Glauben man kommt. Unser Ziel sollte sein, eine Welt zu schaffen, wo wir auch unseren Kindern und Enkeln ein Leben verschaffen können, wo sie keine Ängste haben müssen, nur weil sie einen ethnischen Hintergrund oder anderen Glauben haben.