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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

5. 10. 2014 - 15:00

Alles gehört dir

Anlässlich der großen Ausstellung der deutschen Künstlerin Cosima von Bonin war die Gruppe Tocotronic im Wiener Museumsquartier zu Besuch. Die heilende Energie der Musik.

Neben Haltung, klaren politischen Standpunkten, Einsatz gegen die Menschenverachtung und Dagegen-Sein muss immer auch Platz sein für das Verströmen von positiver Energie. Für den Blick in die Hoffnung, das Feiern der Gemeinschaft, den Glauben an die Liebe. Die deutsche Gruppe Tocotronic hat ihr letztes Album bekanntlich "Wie wir leben wollen" genannt. Um vielleicht auch einmal mit einer klar lebensbejahenden Ansage um die Ecke zu kommen.

Tocotronic waren am Samstag anlässlich der großen Ausstellung der mit der Band befreundeten und immer wieder auch kollaborativ im Austausch stehenden deutschen Künstlerin Cosima von Bonin im Wiener mumok für ein ausverkauftes Einzelkonzert in der Halle E des Museumsquartiers zu Gast. Mit dem Song "Wie wir leben wollen" eröffneten Tocotronic den Abend, und es war gleich zu erahnen, dass hier das Schöne und das Glühen und die Leidenschaft zelebriert werden würden. "Our Band Could Be Your Life" lautet eine berühmte Zeile der experimentellen 80er-Hardcoreband Minutemen, wir wollen diesen Slogan, der auch zum Buchtitel werden sollte, auf Tocotronic umwidmen: Tocotronic – für viele Beförderer von Ekel, affiger Kunstsinnigkeit und Geckentum, für viele ein Kirchgang.

Tocotronic

Christian Stipkovits

Es gab kein neues Album zu betouren, nichts zu verkaufen und keine neuen Einsichten zu teilen. Es war ein Abend für eine Freundin - und viele Freundinnen und Freunde. "Wir lieben euch jetzt schon!" sagte Frontmann Dirk von Lowtzow nach der dritten Nummer, "Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen", Richtung Publikum. Wie immer war es nicht schwer ihm zu glauben. Mit der ihm eigenen schelmischen Euphorie warf von Lowtzow nach jeder zweiten Nummer ein "Wien!" oder ein "Dankeschön!" in die Menge und bedeutete den Menschen mit offenen Armen, sie mögen sich doch auch selbst beklatschen. Bloß schade, dass er nicht weiße Gladiolen im Publikum verteilte.

Der Anlass war ein spezieller, das Set jedoch könnte man von Tocotronic in den vergangenen Jahren in ähnlicher Form schon das eine oder andere Mal erlebt haben. Es gab die souveräne Balance aus hoher Hit-Dichte - "Let There Be Rock", "This Boy is Tocotronic", "Macht es nicht selbst", "Aber hier leben, nein danke" - und Sperrigerem: "Sag alles ab", "Abschaffen". Ein Set, das überraschend wenig auf das aktuelle Album zurückgriff, quer durch die Karriere der Band lief und mit leichtem Überhang dem Album "Kapitulation" den Vorzug gab.

Dirk von Lowtzow

Christian Stipkovits

Es ist egal. Diese Band hat einen so gewaltigen Fundus an wichtigen, großartigen, albernen, witzigen, berührenden, aufrührerischen, anstachelnden, friedenstiftenden, die ganze Welt begreifenden Songs, sie könnte mindestens zwanzig komplett unterschiedliche Sets zusammenbauen, die allesamt nicht ein bisschen schlecht wären. Tocotronic ist wie Pizza. Auch schlecht noch recht beliebt. Schlecht sind sie nicht, waren sie nicht. Ein Idealtypus von Band, eine Schwesternschaft, eine Band mit Attitude, pompösen Gesten, großen Ideen, Humor, Willen zum Quatsch und zur um die Ecke gedachten Selbstbespiegelung.

Das Stück "Verschwör' dich gegen dich" widmete von Lowtzow ausdrücklich von Bonin, im Mittelteil überraschte die selten live gehörte Nummer "Samstag ist Selbstmord" vom Debütalbum "Digital ist Besser" aus dem Jahr 1995. Gewaltige Bewegung ging durch die Reihen, manchmal ist die Nostalgie doch ganz gut zu ertragen. Den Abschluss des regulären Sets machte nach "Hi Freaks" der Song "Explosion" in krachiger, fast schon shoegaziger Darreichung. Es stimmt: Alles explodiert. Alles gehört dir.

Tocotronic

Christian Stipkovits

Nach der ersten Zugabe, "Kapitulation", folgte der ewige, unkaputtbare Hit "Freiburg", der schon ab dem ersten halben Ton mit Gejohle begrüßt wurde. Das Stück mündete in Feedback und Rauschen, über dem von Lowtzow mantrahaft die Wahrheit wiederholte: "Music is the Healing Force of the Universe", eine vom mächtigen spirituellen Jazzer Albert Ayler geborgte Botschaft des Optimismus. Längst ist diese Kombination, ein Lied, in dem zuvorderst vom "Hassen" gesungen wird, plus ein Slogan, der die Vereinigung, das Zusammenwachsen beschwört, ein Standard im Live-Repertoire von Tocotronic geworden.

Handküsse wurden ins Publikum entsandt, die Mitglieder der Band bildeten eine artige Reihe und verbeugten sich. Die Gruppe musste wiederkehren: Kurz, ganz kurz, traten vor der zweiten Zugabe Cosima von Bonin und mumok-Direktorin Karola Kraus auf die Bühne und sprachen sektlaunige Worte ins Mikrofon. Keinerlei Elitismus oder Standesdünkel war zu spüren, bloß die große Freude über einen großen Abend.

Tocotronic gaben die unhymnenhafte Hymne für die Verzärtelung, die Ambiguitäten und Uneindeutigkeiten: "Im Zweifel für den Zweifel" in einer weichen, verhallten Variante. Ein Lied, das weiß, dass es nicht bloß x und y gibt in diesem Leben. Ewig hätte das noch so weitergehen können. Nach diesem symbolträchtigen Song entschwand die Band und kehrte nach langem, langem Geschrei und Geklatsche aus dem Publikum ein letztes Mal, für eine dritte Zugabe, wieder: "Drüben auf dem Hügel". Bis wir zusammen sind. Musik ist einende Kraft. Lasst uns einander die Hände reichen

Dirk von Lowtzow

Christian Stipkovits

Tocotronic

Christian Stipkovits