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Hanna Silbermayr

Lateinamerika, Migration, Grenzen und globale Ungleichheiten

6. 10. 2014 - 14:35

Venezuela ist eine tickende Zeitbombe

So beschreiben zumindest viele Venezolaner ihr eigenes Land: Galoppierende Inflation, steigende Gewalt und Korruption.

Im Frühjahr diesen Jahres hat sich diese Bombe bereits einmal in teils gewalttätigen Aufständen entladen. Vornehmlich junge Menschen gingen ab Februar gegen Präsident Nicolás Maduro und dessen sozialistische Politik auf die Straße. Heute, ein halbes Jahr später, ist es um die Proteste relativ ruhig geworden. Doch es könnte jederzeit wieder losgehen, dessen ist man sich in Caracas sicher.

Die Gesellschaft Venezuelas ist tief gespalten. Das erkennt man schon daran, dass sich die Hauptstadt Caracas in Osten und Westen teilt. Im einen Teil regieren tendenziell die Chavistas, im anderen die Opposition. Im Westen der Stadt stehen die großen Sozialbauten, von deren Hauswänden die Unterschrift und manchmal auch die wachenden Augen des verstorbenen Präsident Hugo Chávez prangen. Im Gegensatz dazu gibt sich das östliche Caracas mit seinen geraden Straßen und südeuropäisch wirkenden Plätzen wenig traditionell, ja fast kosmopolitisch. Hier war es auch, wo die Proteste zu Jahresbeginn voll entbrannten und Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten ausgetragen wurden.

Hugo Chaves Graffitto

Hanna Silbermayr

Wenn Daniel, ein 25-jähriger Student, diese Straßen heute mit dem Auto entlang fährt, dann schießen ihm unweigerlich Bilder jener Wochen und Monate in den Kopf, als er nur noch zum Duschen nach Hause fuhr. Den Rest der Tage verbrachte er auf der Straße, protestierte, schrie Parolen, warf manchmal auch Steine gegen die staatlichen Sicherheitskräfte. Diese wiederum antworteten mit Tränengas. Er erzählt euphorisch, hat zu fast jeder Straßenecke und Kreuzung eine Geschichte parat. Er erinnert sich an den Tag, als er mit anderen Demonstranten in der Nähe des Altamira-Platzes eingekesselt war: auf der einen Seite von der Nationalgarde, auf der anderen von regierungstreuen, zivilen Schlägertrupps. Die eingekesselten Demonstranten stürmten die angrenzenden Häuserblocks, versuchten sich irgendwo zu verstecken. Daniel hatte Glück, eine Frau gewährte ihm in ihrer Wohnung Zuflucht. Die ganze Nacht blieb er dort, bis er sich sicher war, dass er das Haus verlassen konnte ohne festgenommen zu werden.

Wenn man die jungen Venezolaner fragt, weshalb sie seit Februar immer wieder auf die Straße gehen, ist die Antwort stets die Gleiche: die ausufernde Kriminalität, die hohe Inflation, der massive Mangel an Produkten des täglichen Bedarfs. Vor allem während des letzten Jahres, nach dem Tod von Hugo Chávez, hat sich die Lage verschlimmert, sagen sie.

Schon seit Längerem hat Venezuela eine der höchsten Gewaltraten der Welt. Laut im Mai veröffentlichten Statistiken der UNO war die Mordrate 2012 lediglich in Honduras höher. Außerdem ist Venezuela das einzige Land der Welt, in dem die Mordrate seit 1995 kontinuierlich ansteigt.

Das ist im Alltag spürbar: in den westlichen Stadtvierteln sind die sonst recht belebten Straßen ab neun Uhr abends wie ausgestorben. Kein Mensch wagt sich außer Haus. Zu groß die Gefahr, Opfer eines bewaffneten Raubüberfalls oder gar einer Entführung zu werden. Auch sonst bewegen sich die Venezolaner so unauffällig wie möglich durch den Alltag. Anrufe beantwortet man nicht auf offener Straße beantwortet, das ist eine der ersten Lektionen, die man als Neuling in Caracas lernt, denn selbst ein Handy kann das Leben kosten. Joseph, ein 20-jähriger Skater, der von sich selbst sagt, Chavista (aber nicht „Madurista“) zu sein, beschreibt die allgemeine Situation inzwischen als Anarchie. Er wäre die gesamte Zeit, die er auf der Straße verbringe, achtsam, sagt er. Er scannt seine Umgebung geradezu ab, immer bereit, die Flucht zu ergreifen. Früher wäre das anders gewesen.

Weitaus sichtbarer als die Kriminalität sind die anderen Probleme, mit denen Venezuela zu kämpfen hat. Etwa die Auswirkungen der jährlichen Inflation, die im August offiziell 63,4 Prozent erreicht hat - eine der höchsten weltweit. Sie macht sich immer stärker im Alltag bemerkbar. Es ist inzwischen keine Seltenheit mehr, lange Menschenschlangen vor Supermärkten oder Apotheken anzutreffen. Sie bedeuten, dass es hier ein Produkt gibt, das man sonst nirgends mehr bekommt. Milch, Kaffee oder Mehl zum Beispiel. Oft sucht man tagelang die gesamte Stadt nach Shampoo oder Seife ab. In manchen Supermärkten werden die Mitarbeiter angewiesen, die Regale mit irgendwelchen vorhandenen Produkten aufzufüllen, damit die Läden nicht leer aussehen. Hier sucht man vergeblich zwischen lange Reihen einer einzigen Ketchup-Marke nach Zucker.

Kind vor Ballongeschäft in Venezuela

Hanna Silbermayr

Auch Medikamente sind knapp. Die Situation nimmt inzwischen lebensbedrohliche Ausmaße an, was Ende August verschiedene Ärzte dazu veranlasste, einen offenen Brief mit der Bitte um die Ausrufung einer „humanitären Notlage“ an die venezolanische Regierung zu schicken. Denn in den Krankenhäusern - sowohl in privaten als auch öffentlichen - fehlt es an wichtigen Materialien und Medikamenten. Ende August mussten Operationen abgesagt werden, da es kaum mehr Narkosemittel gab und nur noch Notfälle operiert wurden. Auch sonstige Medikamente, die das Krankenhaus normalerweise zur Verfügung stellt, sind so schwer zu bekommen, dass sie von den Patienten selbst besorgt werden müssen - sofern sie sie überhaupt irgendwo finden. Manchmal ein Wettlauf mit der Zeit.

Die hohe Inflation und der Mangel an Produkten hat Konsequenzen. Einerseits versuchen die Venezolaner ähnlich den Argentiniern an sichere Währungen wie den US-Dollar zu kommen. Ausländische Währungen werden allerdings von der venezolanischen Regierung kontrolliert und nur zu bestimmten Anlässen, etwa einer Auslandsreise, für Staatsbürger freigegeben. Und selbst dann ist die Höhe auf maximal 3.000 Dollar pro Jahr limitiert.

Der venezolanische Fotograf Carlos Garcia Rawlins hat die galoppierende Inflation in Bildern veranschaulicht

All das schraubt den Dollar-Wert am Schwarzmarkt in schwindelerregende Höhen: für einen Dollar bekommt man inzwischen 102 venezolanische Bolivares. Zum Vergleich: Der offizielle Wechselkurs liegt bei 6,3 Bolivares für einen Dollar. Der Schwarzmarkt floriert. Genauso, wie die ausländischen Währungen fleißig gehandelt werden, passiert das auch mit knappen Lebensmitteln. Dagegen will die Regierung jetzt vorgehen: ab November sollen Fingerabdruck-Scanner Mengeneinkäufe eindämmen. Schon jetzt müssen an den Kassen der Supermärkte Personalausweisnummer und Name bekannt gegeben werden.

Vor allem die jüngere Generation sieht in ihrem eigenen Land inzwischen keine Zukunft mehr. Zwar sind die Proteste des Frühjahres abgeflaut, doch basteln die Studierenden an einem neuen, besser organisierten Aufstand. Doch manche haben inzwischen auch resigniert. Eine im August vom Meinungsforschungsinstitut Datanális veröffentlichte Studie) zeigt, dass jeder zehnte Venezolaner plant, in naher Zukunft auszuwandern. Auch Daniel und Joseph gehören zu diesen zehn Prozent. Joseph, der einen vierjährigen Sohn hat, sagt, er wolle sein Kind ganz einfach nicht in einem Land voller Gewalt und Korruption großziehen. Schon im kommenden Jahr will er in Spanien ein neues Leben beginnen. Daniels Pläne sind weniger konkret. Doch auch er will nach Abschluss seines Studiums das Land verlassen. Wohin genau, weiß er noch nicht. Einfach weg, sagt er.