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Astrid Schwarz

Radio FM4

Astrid Schwarz

Digitales und Reales

29. 9. 2014 - 12:54

Von Kur keine Spur

Brasilien, heiße Rhythmen am Strand und eine Affäre mit Folgen. Saskia bekommt ein "Milchkaffeebaby", wie die anderen es oft nennen. Muttersein überfordert sie. Kathrin Gross-Strifflers Roman "Zum Meer" thematisiert eines der größten Tabus des Mutterseins: wie es wäre, sein Kind zu verlassen.

Saskia, 20, ist auf der Flucht. Vor ihrem schlechten Gewissen, den schlaflosen Nächten und dem Geschrei. Sie ist per Anhalter in den Norden auf eine Insel gefahren, um ein paar Tage durchzuatmen. Allein. Ohne ihre Tochter. Die hat sie in der WG gelassen, irgendwer wird sich schon um sie kümmern. Alles angehende Mediziner. Nur Saskia ist die Schulabbrecherin. Auf der Insel wohnt sie in einem Hotel, das der Tante einer Freundin gehört. Gratis. Dafür muss sie mithelfen.

"... Ich kann kommen und gehen wie ich will. Kein Wunder, dass alles ungewohnt ist. Ist doch eigentlich alles in Ordnung. Ich bin hier, um mich mal wieder auf mich zu besinnen, wie man so sagt, um Abstand zu gewinnen... ich hab lange Zeit Stress gehabt, kein Wunder, dass ich durchgeknallt bin... ich bin auf Kur. Ist das nicht toll?"

Doch von Kur keine Spur. Sie muss das Frühstücksgeschirr der Gäste wegräumen, die Tante verpflichtet sie zur Mithilfe im benachbarten Hundeheim. Sie muss verlotterte Hunde im Akkord am Strand Gassi führen. Ein runtergekommenes Flüchtlingsheim, ein trauriges Weihnachtsfest und das trübe Wetter zehren an Saskias Nerven. Am Abend wiegt ein Joint sie in den Schlaf. Dann träumt sie von Sonne, Strand und Sex, von einem unbeschwerten Leben mit dem Kindsvater Raffael, der nichts von seinem Kind weiß. Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt.

Buchcover

Aufbau Verlag

"In Salvador laufen kleine Jungs rum, acht-neun-zehn-jährig, mit Beinchen so dünn wie Blumenstängel, klauen, gehen auf den Strich nur für Crack, sie essen nichts und er bietet es mir an, mir, seiner Freundin. Getreten hab ich ihn, dass er aus der Nase geblutet hat, das war unser letzter Streit. Dann bin ich hoch in die Luft, sein Kind im Bauch. Dabei hab ich ihn geliebt. Aber so sind die Menschen. Alle gleich. Er hat es bei der Gringa aufs Geld abgesehen, haben alle gesagt. Ja, ich ihn ausgehalten. Aus Liebe."

Es dauert nicht lang und die Tante wirft sie aus dem Hotel. Zurück in der Stadt ist ihr WG-Zimmer bereits vermietet und ihre Tochter bei der Mutter einer WG-Kollegin untergebracht.

Saskia versucht, wieder Fuß zu fassen. Im Leben. Und bei ihrer knapp einjährigenTochter, die sie fast nicht erkennt. Sie kellnert, hat eine Ein-Zimmer-Wohnung und ein Kind, das immer am Abend aufwacht, wenn sie sich ihren Tagesabschluss-Gute Nacht-Joint anzündet.

Die tägliche Routine, immer allein für Mia da sein zu müssen und immer knapp bei Kasse – das bringt die Möchtegern-Nomadin Saskia fast um. Sie hat keine Lust auf so ein Scheißleben.

Kathrin Gross-Striffler gibt den Krisen, hoffnungslosen Wendepunkten und lakonischen Weltbetrachtungen der 20jährigen eine authentische Stimme. In einem einzigen inneren Monolog lässt die Autorin die Leserinnen durch Saskias selbstgewähltes Schicksal schlingern. Alles spitzt sich auf die Frage zu: kriegt sie die Kurve oder tut sie das undenkbare? Wird sie ihr Kind verlassen? Es zahlt sich aus, das herauszufinden.