Erstellt am: 17. 9. 2014 - 14:08 Uhr
"Sie verdienen es nicht zu leben"
Ich sah mir neulich eine Reportage im Fernsehen an, die Lehrer, Eltern und Schüler zeigte, wie sie Flüchtlingskinder am Eintreten in die Schule in ihrem bulgarischen Dorf hinderten. Niemand schien Freude zu empfinden.
Ich erinnere mich an meinen ersten Schultag in Berlin. Ich hatte fürchterliche Angst. Ich hatte mich an meine Mitschüler in Sofia gewöhnt. Die Schule in Bulgarien gefiel mir. Auf einmal hat sich aber alles verändert. Ohne mich zu fragen, wurde ich auf die andere Seite von Europa mitgenommen. Meine Schule war ein gewöhnliches Gymnasium im Osten der Stadt. Ein Plattenbau, ungefähr 200 Meter von der Mauer entfernt. Ich hatte keine Ahnung, ob mich meine Mitschüler akzeptieren würden. Ich sprach sehr schlecht Deutsch. Ich kannte den Berliner Dialekt nicht, ich kannte die Regeln in Deutschland nicht und ich verstand die Witze meiner Mitschüler nicht. Gleich am ersten Tag fuhr meine neue Klasse auf Klassenfahrt in ein Brandenburger Dorf.
Ich war nicht der einzige, der Angst hatte. Wir bildeten eine Gruppe von Außenseitern: der dicke Michael, dessen Familie aus Karl-Marx-Stadt kam, Jurek aus Polen und Sergej aus Barnaul im tiefen Sibirien, der die ängstlichsten Augen der Welt hatte. Jeder von uns trug seine eigene Angst in sich. Mit uns war aber unser Klassenlehrer Herr Pohl, der genau wie John Lennon aussah. Es spielte auch Gitarre. Ich kannte alle Beatles-Lieder und Herr Pohl lobte mich dafür. Zu Jurek sagte er, er sähe aus wie der junge Jim Morisson, und Michael erinnerte ihn an Mike Tyson (wenn ich jetzt so nachdenke, ich weiß nicht, ob das letzte tatsächlich ein Kompliment war). Zu Sergej sagte er nur, dass er der erste Mensch aus Sibirien wäre, den er traf. Die traurigen Augen von Sergej leuchteten voller Stolz.
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In der Reportage aus Bulgarien schrien die Eltern der bulgarischen Kinder in die Kameras, dass die Flüchtlinge aus Syrien Krankheiten und Gefahren brächten. Einer der Schüler sagte: "Wir werden alle diese Flüchtlinge zusammenschlagen. Sie sind sowieso krank, sie verdienen es nicht zu leben!" Wo er das wohl gehört hatte? Von seinen Eltern? Von den Lehrern? Aus den Medien? Die Lehrer versteckten sich vor den Kameras. Die, die Kinder Toleranz beibringen sollten, fürchteten sich, ihr Gesicht zu zeigen. Es gibt in Bulgarien keine Institution, die sich um die Integration der Flüchtlinge kümmert. Das Problem wird sich weiter vertiefen, so lange der Staat und die Schule sich davor drücken. Fall sie jemanden suchen, der diese Behörde anführen soll, dann schlage ich Herrn Pohl vor.