Erstellt am: 14. 9. 2014 - 18:13 Uhr
Flimmern
Flimmern - der assoziative FM4 Wochenrückblick
Sie will immer kartografieren und erfassen, um kontrollieren und regulieren zu können. Das hat eine mehr als nur unangenehme koloniale Geschichte: Da waren es zuerst christliche Missionare, die auf ihren ausgedehnten Reisen genaue Berichte schrieben: "Cables" sind keine Erfindung von US-Botschaften und ihren Geheimdiensten. Waren diese Berichte christlicher Missionare zunächst nicht unbedingt "nützlich" oder verwertbar, wurden sie dies aber Jahre und Jahrzehnte später umso mehr, wenn es darum ging, diesen Raum zu unterwerfen. Was früher einmal zum Beispiel die Jesuiten waren, sind heute Drohnen.
Enzyklopädie nennt man die systematische Darstellung der Welt, ihrer Bestandteile und Bewohner. Kein Wunder, dass die französischen Aufklärer wie Voltaire und Diderot allesamt Enzyklopädisten waren: Das Wissen der Welt sammeln und der Welt zur Verfügung stellen, das ist so ziemlich genau das Gegenteil von Geheimwissen. Und zwischen Aufklärern und Aufklärungsdrohnen, Jesuiten und permanenter Weltkartenproduktion finden sich auch die Drums. Von den Drums dachte ich eigentlich, dass es sich bei ihnen um eine nette Retrostyler-Band aus Brooklyn handelt, aber nichts da: Sie haben ihr neues Album "Enzyklopädie" genannt und wollen jetzt eine politische Band sein.
Jonny Pierce, der Sänger der Band The Drums, erzählt, dass zu Beginn der Arbeit an "Encyclopedia" die Frage stand: "Wollen wir beliebt oder wollen wir ehrlich sein?" Ihr könnt euch vorstellen, für welchen Weg sich die Drums entschieden haben. Es gibt einen Song über Gay Rights, einen über Trans Rights, einer beschäftigt sich mit Atheismus, das ist schon etwas ganz anderes als Let's go Surfin.
"Wie unsere Welt gewachsen ist, wie wir Dinge definieren und verbinden, wird von Enzyklopädien definiert, andere Enzyklopädien, andere Verbindungen", meint Jonny Pierce. Die Idee hinter der Encylopedia: Was nicht erfasst ist, existiert in einigen Sphären nicht, deshalb muss man sich seine eigene, neue Enzyklopädie schaffen, in die es geschrieben wird.
the drums
Die meisten Pflanzen- und Tierarten im Amazonas sind noch nicht erfasst. Sie sind unerforscht, und werden es, wenn die Zerstörung des Regenwaldes weiter voranschreitet, auch bleiben. In den zehn Jahren von 1999 bis 2009 wurden 1.200 neue Arten entdeckt. In Peru leben, 100 Kilometer entfernt von Machu Piccu in einem National Park Amazonasstämme, die keinen Kontakt zu Außenwelt haben, weil sie das, was wir aufführen, Scheiße finden. Voluntary Isolation, freiwillige Isolation, ist das Wort, das dafür verwendet wird. Ihre Rechte und ihr Leben wird nun den Öl-Giganten Pluspetrol (Argentinien), Hunt Oil (USA) and Repsol (Spanien) geopfert. Die peruanische Regierung hat Bohrungen in den Gebieten der Amazonasstämme, dem Camisea Project, zugestimmt. Das bedeutet, Hunderte Arbeiter werden dort einfallen und Krankheiten übertragen, gegen die die Indigenas keine Aberwehrmechanisen haben. Als Shell in den 1980er Jahren erste Expeditionen in das Gebiet der unerforschen Stämme startete, hatte das den Tod der Hälfte der Bevölkerung zur Folge.
Passiert ist daraufhin nichts, es gab keine Anklage, weil die Menschen ja nicht erforscht, kartografiert und erfasst worden waren. Sie existierten rechtlich eigentlich gar nicht. Ein Schicksal, das auch Menschen nach einer Migration droht. Ihre bisherige Existenz, ihre Geschichte und oft auch ihr Wissen gilt als nicht wichtig, wird ignoriert oder ausgelöscht.
proll positions
Um diese Geschichten und dieses Wissen zu bewahren, hat der Wiener Verlag Proll Positions unter dem Namen "Edition 44mm" die Utopische Bibliothek der Migration geschaffen, die nächste Woche am Donnerstag präsentiert wird:
proll positions
44 Bücher als präzise formulierte Herausforderungen der Realität, denn Karten im Sinn von Weltbildern und Bildern von Welt leiten uns an. Viele dieser Karten müssten neu geschrieben werde, da die Welt sich permanent ändert. Weil unser Wissen von der Welt die Grenzen unserer Horizonts markiert, geht es bei der "Edition 44mm" von Proll Positions also auch darum, diesen Horizont des Denkens auszudehnen und zu überschreiten. 44 ExpertInnen der Migration haben sich die Frage gestellt: Welches Buch zu Migration sollte und müsste es geben, wird jedoch unter den gegenwärtigen Bedingungen nie erscheinen?
Donnerstag, 18. September 2014, 20 Uhr: Proll Positions Präsentationsparty
Edition 44mm ein Projekt im Rahmen der WIENWOCHE 2014 : Ihr werdet noch bereuen uns Deutsch beigebracht zu haben. Künstlerhaus Passagegalerie, 1010, Karlsplatz 5.
20 Uhr: The Book is on the Table: Grill & Spill. Mit Sebastian Schlachter-Delgado (FM4 La Boum Deluxe, Vienna Wildstyle).
22 Uhr: Party: Drink & Blink. Mit Austrian Apparel und Ranah Geist a.k.a. Fauna (moun10).
Vom Historiker und Schriftsteller Doron Rabinovici über den stadtbekannten Rowdie Puber und Mili, die legendäre Klofrau der Grellen Forelle, bis hin zu Adalat Khan, dem Sprecher der Refugee-Bewegung und Votivkirchenbesetzer reicht die Riege. Khans Buch bei Proll Positions trägt den Titel: "Drohnen, Drachmen, Dome: Die Geschichte meines Kampfes in drei Ländern". Der Regisseur von Schwarzkopf und Everyday Rebellion, Arman T. Riahi, hat ein Buch mit dem Titel "Ziege Stardust und die Zwiebeln des Ararat" verfasst.
Das Buch ist und wäre die Geschichte vom Aufstieg und Fall des kurdisch-österreichischen Exilmusikers Ziege Stardust und seiner Begleitband Zwiebeln des Ararat. Der Musiker ist ein ignoriertes Multitalent, das sich zum Liebkind der österreichischen Kulturszene empordribbelt und am Ende doch wieder zurück in die Untiefen der lokalen Drittklassigkeit heruntergeschmäht wird. Die Bücher erscheinen mit leeren Seiten, denn Utopie ist eine Richtung und keine Insel.