Erstellt am: 13. 9. 2014 - 11:08 Uhr
Du bist die Designerin
Jeder von uns hat Leichen im Kasten. Teile, die man nicht mehr trägt, weil sie zu klein oder zu groß geworden sind, niemals wirklich gut gepasst haben, ein Detail haben, das stört, oder schlicht aus der Mode gekommen sind. Trotzdem bringt man es nicht übers Herz, sie auszusortieren. Sie überleben Umzüge, Räumattacken und Hausflohmärkte. Höchste Zeit für eine Wiederbelebung.
Eine meiner Kastenleichen war ein bordeauxrotes Kleid, das ich in einem Jungdesignerladen gekauft habe. Toller Stoff, toller Schnitt. Oben rum zumindest. Nur unten im Saum, da waren diese Schnüre, mit denen ich das Kleid auf kunstvolle Weise um meinen Körper drapieren sollte. Im Geschäft hat das alles umwerfend ausgesehen, zuhause hatte ich die diversen Bindetechniken sofort wieder vergessen. Das Ding hing seither an der Stange.
Walter Lunzer ist Modedesigner und Kunstpädagoge. Er ist außerdem die "gute Fee" der Gebrüder Stitch, bringt im Rahmen eines Forschungsprojekt die Mathematik ins Design und macht derzeit als Modekonsulent Körperprothesen zu Kunstobjekten.
Walter Lunzer und sein Team, bestehend aus Designerin Martina Mahdavi und Schneidermeisterin Sonja Wagner, nehmen sich genau solcher Kleidungsstücke an.
André Karsai
Schauplatz der Nähkurse ist der Schnittbogen in Wien, eine Gemeinschafts-schneiderwerkstatt, die von bunten Zwirnen übers Teflon-Dampfbügeleisen bis zu Industrienähmaschinen alles zu bieten hat, was das Designerherz begehrt.
In den Stitching Sessions vermitteln sie das Wissen, wie man alte Kleider selbst verändern kann oder aus einem Stück Stoff und einem Schnittmuster etwas völlig Neues kreiert. Im Vordergrund stehen dabei die individuellen Wünsche der TeilnehmerInnen, die konkrete Umsetzung wird ihren Fähigkeiten angepasst. Im Klartext heißt das: Selbst wenn man wie ich seit der Unterstufe keine Nadel mehr in der Hand gehabt hat, noch die geringste Vorstellung davon hat, was man eigentlich schneidern will, wird man die Stitching Sessions mit einem schicken Teil verlassen und von der eigenen Kreativität überrascht sein. Jedes Mal, wenn ich Walter um seine Meinung frage, zählt er mir meine Möglichkeiten auf und fügt dann stets hinzu: "Du bist die Designerin".
Upcycling statt Wegwerfen
Walter Lunzer liegt in den Stitching Sessions zusätzlich der ökologische Aspekt am Herzen. Kleidung sei zum Wegwerfprodukt geworden, sagt er, viele wüssten gar nicht, wie viel Arbeit in gut verarbeiteten Hemden, Hosen und Röcken stecke:
"Es gibt noch keinen Vollautomaten, der ein Kleidungsstück komplett zusammennäht, nach wie vor müssen Menschen an Nähmaschinen sitzen. Daher sehe ich es als meine Aufgabe, nicht nur die Freude am Handwerk und dem Designen zu vermitteln, sondern auch Konsumentenbewusstsein zu erzeugen."
Dass jede Menge Arbeitsschritte nötig sind, um auch nur ein relativ schlichtes Design zu verwirklichen, wird im Laufe meiner Stitching Session mehr als deutlich. Ich habe nicht einfach einen Streifen von meinem Kleid abgeschnitten und daraus einen Gürtel gemacht.
André Karsai
Von Walter Lunzer gibt es auch jede Menge DIY-Tutorials auf Youtube - vom Einfädeln des Zwirns in die Nähmaschine bis zum selbstgenähten T-Shirt. Die Videos eignen sich gut zur Vorbereitung auf die Stitching Sessions.
Ich habe überlegt und beraten, abgesteckt, gemessen und parallel verschoben, abgeschnitten, Nähte aufgetrennt und wiederholt gebügelt - mal um Nähte flach zu kriegen, mal um mit einer Bügelklebe, also einem Band, das durch Hitze klebrig wird, meinen Gürtel zu versteifen. Dann habe ich mich mit den Nähmaschinen vertraut gemacht, Nadeln versenkt, Füßchen gehoben, vernäht, den Stoff gedreht, den Gürtel verstürzt, das heißt von innen nach außen gestülpt, einen Klettverschluss angenäht und mir von der 4.000-Stiche-pro-Minute-Overlock-Nähmaschine einen welligen Mermaid-Saum zaubern lassen. Ohne Hilfe hätte ich das nie geschafft, stolz kann ich trotzdem sein. Ich werde meine Kastenleiche demnächst ausführen.